Was hat die Deutsche Bahn AG gegen Bergedorf?
Die Havarie des ICE von Ostseebad Binz nach Frankfurt am 14. August in Hamburg und die Erwähnung der Fahrt von Budapest nach Hamburg in Michael Jungs Blogbeitrag 102 von 20.6.2023 veranlassten mich, mal das Thema »Fernzughalte in Hamburg-Bergedorf« zu beleuchten.
Bergedorf hat rund 133.000 Einwohner und bildet einen der sieben Hamburger Bezirke. Die Bahnlinie zwischen Hamburg und Bergedorf war 1842 eine der ersten Bahnstrecken in Norddeutschland, mit der Fertigstellung der Strecke bis Berlin ging 1846 die damals längste deutsche Fernverbindung in Betrieb. Bei einer Fahrt zwischen Bergedorf und dem Lehrter Bahnhof in Berlin stellte der »Schienenzeppelin« 1931 mit 230 km/h einen Geschwindigkeitsrekord für Schienenfahrzeuge auf, der erst 1955 von einer französischen Lok mit 331 km/h überboten wurde.
2004 wurde die Strecke Hamburg-Berlin für 230 km/h ausgebaut.
2023 halten genau drei Fernzüge pro Tag in Bergedorf: der von Michael Jung genutzte EC aus Budapest, sein Gegenzug, sowie ein ICE aus Dresden.
Mehr nicht.
Alle anderen Fernzüge rauschen in Bergedorf durch. Reisende werden dazu gezwungen, mit der S-Bahn in 21 Minuten zum Hamburger Hbf zu fahren, dort mit 15 bis 25 Minuten Umsteigezeit zu kalkulieren – und 11 Minuten nach Abfahrt fahren sie dann ohne Halt durch den Bahnhof Bergedorf, wo sie knapp eine Stunde zuvor in die S-Bahn gestiegen sind (falls nicht gerade angekündigter Schienenersatzverkehr stattfindet und sie eine weitere Stunde früher aufbrechen müssen oder die notorisch unzuverlässige S-Bahn liegengeblieben ist und sie ihren Fernzug verpassen).
Dabei gibt es zwischen Berlin und Hamburg pro Stunde zwei Züge – der eine ICE fährt von Berlin-Spandau bis Hamburg Hbf ohne Halt durch, der andere ICE benimmt sich hier wie ein IC oder Interregio und hält in Wittenberge (16.800 Einwohner), Ludwigslust (12.300 Einwohner) und Büchen (6.600 Einwohner), aber eben nicht in Bergedorf.
Der dritte Fernzug, der Bergedorf ignoriert, ist die im Zweistundentakt betriebene Linie von Ostseebad Binz über Stralsund, Rostock, Hannover, Kassel, Marburg und Frankfurt bis nach Karlsruhe, auf der täglich 6 (mit Streckentausch aus Koblenz und Köln 7) Züge verkehren, wobei nur einer die gesamte, über 10 Stunden dauernde Strecke absolviert. Diese Züge halten zwischen Stralsund und Hamburg neben den Großstädten Rostock und Schwerin mindestens auch in Velgast (1.700 Einwohner), Ribnitz-Damgarten West (15.700 Einwohner) und in Bützow (8.200 Einwohner), manche auch in Bad Kleinen (3.700 Einwohner). Die Halte in diesen kleinen Orten sind natürlich durch ihre Bedeutung als Verkehrsknotenpunkte gerechtfertigt – hier kreuzen sich größere Strecken oder zweigen kleinere Strecken ab.
Alle 6 Züge, die von Frankfurt über Marburg nach Hamburg fahren, halten in Friedberg (34 km von Frankfurt Hbf entfernt), 5 halten in Hannover Messe/Laatzen (8 km von Hannover Hbf entfernt) und 2 halten in Frankfurt/Main West (3 km von Frankfurt Hbf entfernt).
Aber warum gilt dann nicht auch Bergedorf als Verkehrsknotenpunkt, zumal es mehr Einwohner hat als Schwerin?
Eine im Wortsinne naheliegende Antwort könnte sein: Es liegt zu dicht am Hamburger Hauptbahnhof.
Entsprechendes haben sich Städte wie Potsdam, Offenbach, Mülheim/Ruhr, Leverkusen, Fürth oder Ludwigshafen auch schon anhören müssen.
Aber das werden diejenigen Reisenden, die durch die Hin- und Herfahrt 50 bis 60 Minuten verlieren und beispielsweise nach Rostock 2:26 Stunden statt 1:38 Stunden brauchen, sicherlich anders sehen.
Und verweisen kann man auf Systemhalte des Fernverkehrs wie Berlin-Spandau, Berlin Gesundbrunnen, Berlin-Südkreuz, Berlin Ostbahnhof, München-Pasing, München Ost – und auf die drei anderen Hamburger Fernbahnhöfe Harburg (12 km vom Hbf entfernt), Dammtor und Altona. Warum also nicht auch Bergedorf, das 16 km vom Hbf entfernt ist und wo je nach Tageszeit ein bis zwei S-Bahn-Linien und rund 30 Buslinien den örtlichen Nahverkehr gewährleisten?
Zugleich ist ein Systemhalt des Fernverkehrs wie in Friedberg, dem nördlichen Endpunkt des Frankfurter S-Bahn-Netzes, ein Musterbeispiel dafür, dass man einen Übergang der Reisenden an der Peripherie herstellen kann, anstatt sie zu Umwegfahrten zu zwingen, die den Nahverkehr und den Hauptbahnhof unnötig belasten.
Also: Warum ist Bergedorf kein Systemhalt im Fernverkehr? Würden die vier Minuten Zeitverlust pro Zug den Fahrplan durcheinanderbringen, weil man nicht genügend Gleise und Weichen hat? Dann wäre das Geld hier wohl besser investiert als in einem Milliardengrab zwischen Hamburg-Hauptbahnhof und Hamburg-Diebsteich.