aus Anlass der Klausur der Bundestagsfraktion der Grünen am 29.08.2023
Dringend notwendige Merksätze für die Verkehrspolitik der Grünen
Wenn die Bundestagsfraktion der Bündnisgrünen am 29.08.2023 eine Klausurtagung zur künftigen Mobilitätspolitik macht, dann sollte sie sich auf ihre eigentliche „DNA“ im Sinne einer konsistenten Programmatik besinnen und daraus die richtigen Folgerungen für die Kursbestimmung ihrer aktuellen Regierungsbeteiligungen auf den Ebenen von Bund, Ländern, Regionen/Kreisen und Kommunen ziehen.
In dieser grünen DNA waren schon früh wesentlich Positionen für eine klimagerechte, energiesparsame, kostengünstige und orts- und landschaftsgerechte Verkehrswende fixiert. Später sind sie leider bei vielen grünen Regierungsbeteiligungen in Bund, Ländern, Regionen und Kommunen abgeschliffen, verwässert und vergessen worden. Darum ist es wichtig, die Grünen an diese Merk- und Leitsätze zu erinnern, um damit neuen Schwung in die festgefahrenen verkehrspolitischen Debatten zu bringen.
1. Flexiblere Standards, mehr Spielräume für kreative Lösungen für den Schienennetzausbau
Die meisten Bahnprojekte in Deutschland kranken an viel zu hohen Standards für die Infrastruktur (Strecken, Bahnhöfe, Haltepunkte) und einer falschen Fixierung auf höchstmögliche Geschwindigkeiten. Das verzögert die Umsetzung, lässt die Kosten explodieren und führt zu extrem klimaschädlichen Bauweisen mit hohem Einsatz von Stahl und Beton für eine unsinnige große Menge und Länge von Tunneln. Für eine starke Schiene braucht man vor allem dichtere Netze, viel mehr Streckenreaktivierungen, durchgängige Elektrifizierung des Netzes und dichtere Takte. Die exzessive Fixierung auf hohe Geschwindigkeiten bremst immer wieder den Güterverkehr. Deswegen ist ein Harmonisierung der Geschwindigkeiten auf mittlerem Geschwindigkeitsniveau (Motto: die Langsamen schneller machen, z.B. von 80 km/h auf 120 km/h oder 120 km/h auf 160 km/h, Abbau aller Langsam Fahrstrecken im Bahnnetz und die Zu Schnellen langsamer machen, z.B. von 350 km/h auf max. 160-200 km/h) der Königsweg für schnellen Netzausbau, mehr Kapazität und hohe Akzeptanz und hohe Kosteneffizienz.
2. Schluss mit der Bodenspekulation an Großbahnhöfen
Aktuell blockieren mehrere unsinnige Bodenspekulationsprojekte wie Stuttgart 21 oder Hamburg-Altona den finanziellen und planerischen Spielraum der Bahn für die eigentlich dringende Netzerweiterung und Netzverbesserung. Die Dominanz immobilienwirtschaftlicher Spekulationen, die zu massivem Gleis- und Kapazitätsabbau führen, muss sofort beendet werden. Priorität braucht der Netzausbau im ganzen Land. Aus dem Scheitern von S 21 mit seiner Kostenexplosion und Zeitverzögerung müssen endlich die richtigen Lehren gezogen werden. Die systematische Kapazitätsvernichtung durch Stilllegungen muss beendet werden, Priorität brauchen netzwirksame Kapazitätserweiterungen für viele neue ländliche S-Bahnsysteme, eine dezentrale Güterbahn und den schnellen Ausbau eingleisiger Strecken. Statt glitzernder Konsumtempel müssen die Tausenden desolater und vielfach bereits abgeschriebener Bahnhöfe und Haltepunkte zu modernen, leistungsfähigen Mobilstationen ausgebaut werden. Alle Bahnprojekte brauchen spezifische Kostendeckel, die Grundsätze sparsamer, am Netznutzen orientierter Infrastrukturplanung müssen politisch und planerisch ernst genommen werden.
3. Bescheidener Straßennetzausbau und ortsgerechter Straßenumbau
Auch im Straßenbau führt die Fixierung auf „Autobahnmaßstäbe“ zu massiven Eingriffen in Ortsbilder und Landschaften, zu extrem langen Planungszeiten und massiven Widerständen in der Bevölkerung. Der derzeit immer noch exzessive Straßennetzausbau bei Autobahnen und Bundesstraßen muss durch ein Moratorium beendet werden. Alle alten Projekte des BVWP gehören auf den klimapolitischen Prüfstand. Alle Bau- und Planungsvorschriften im Straßenbau müssen vereinfacht und hinsichtlich der Eingriffsfolgen auf minimal invasive Infrastrukturmaßstäbe umgeändert werden. Dann bestehen wieder Chancen auf eine hohe Akzeptanz für den Straßenumbau. Insbesondere für die Umgestaltung von Ortsdurchfahrten klassifizierter Straßen müssen die Standards für Entwurfsgeschwindigkeiten und Querschnitte massiv abgesenkt und die Spielräume für ortsgerechte, verkehrsberuhigende Umbauten und generelle lineare Tempo 30 Regelungen erweitert werden. Nicht umsonst wächst derzeit das kommunale Netzwerk der Tempo 30 Städte schnell weiter auf über 900 Mitglieder. Der Bund und die Länder können diese Forderungen nicht länger ignorieren und die Grünen müssen sich endlich wieder auf allen Ebenen an die Spitze der Bewegung setzen. Es geht um mehr Freiheit für die betroffene Ortsbevölkerung, um mehr Effizienz der Verkehrsabläufe, mehr Sicherheit und Umwelt- und Klimaverträglichkeit der notwendigen Verkehre.
3. Transformation der Budgets und Personalbestände
Viele notwendige und sinnvolle Planungen scheitern einstweilen an Budget- und Personalengpässen. Das beginnt in den Ministerien von Bund und Ländern, bei denen in der „old-school“ alter und falscher politischer Prioritäten die Budget- und Personalbestände des autofixierten Straßenbaus gegenüber den kümmerlichen Budget- und Personalbeständen des Umweltverbundes ein starkes Übergewicht haben. Verkehrswende erfordert eine Transformation der Budgets und Personalbestände auf allen Ebenen durch Umorganisation, Umsetzung und Umschulung. Das geht dann weiter beim Personal für den Betrieb, auch hier müssen die dramatischen Engpässe durch eine verkehrswendetaugliche Umbewertung der bezahlungsrelevanten Stellenmerkmale und ein entsprechendes Rekrutierungsprogramm beseitigt werden.
4. Priorität für ländliche Räume
Verkehrswende muss auch und vor allem die Verkehrsstrukturen in ländlichen Regionen „umkrempeln“. Der ländliche Raum wurde viel zu lange im Umweltverbund kaputtgespart. Die Post- und Bahnbusnetze wurden abgeschafft, viele Bahnstrecken und Bahnhöfe und vor allem auch Gütergleise und Tarifpunkte der Güterbahn wurden stillgelegt. Der Schienenbus als ideales Schienenfahrzeug für ländliche Regionen wurde ausgemustert. Stattdessen wurde der Straßen- und Parkraumbau in ländlichen Regionen massiv forciert. Der aktuelle Busverkehr beschränkt sich vielfach auf den Schülerverkehr. Die in der Menge riesigen touristischen und Freizeitverkehre, die meist den ländlichen Raum als Ziel haben, wurden als ÖPNV/SPNV-Nachfragesegment verkehrspolitisch und planerisch ignoriert. In den Verfahren der sog. Standardisierten Bewertung von Kosten und Nutzen spielen sie keine Rolle. Stattdessen dominiert dort die Geschwindigkeitsfixierung die Projektbewertung mit dem Ergebnis von extrem teuren Projekten. Weil Tempo kostet. Die typischen Tourismus- und Freizeitzielregionen wurden stattdessen mit immer mehr Straßen und Parkraum bedient. Aus diesem Teufelskreis der Staugesellschaft kommt man nur raus, wenn man konsequent und systematisch umsteuert. Der ländliche Raum braucht tausende neue attraktive Dorf- und Ortsbussysteme und Landbussysteme. Klein- und Mittelstädte brauchen attraktive Stadtbussysteme. Die Busformate müssen diesen Aufgaben angepasst werden, mehr mini- und midi- Formate sind gefragt, die Jumbotechnologie der Großraumgelenkbusse ist für ländliche Regionen untauglich. Im Schienenverkehr braucht der Schienenbus eine Renaissance als akkuelektrische oder oberleitungselektrische moderne Variante des ansonsten idealen Formats für ländliche Regionen. Dann können auch im ländlichen Raum endlich attraktive S-Bahnsysteme entstehen, mit Tausenden neuer Bahnhöfe und Haltepunkte, wo immer die Siedlungsentwicklung den alten Schienennetzen enteilt ist.
4. Renaissance der Straßenbahn
Deutschland war mal das führende Straßenbahnland in der Welt. Davon ist leider ebenfalls viel vernichtet worden, die Zahl und Länge der Straßenbahnnetze wurde mehr als halbiert. Milliardeninvestitionen wurden im kommunalen Schienenverkehr in unsinnigen Tunnelprojekten und in übertrieben geschwindigkeitsfixierten Stadtbahnprojekten „versenkt“, statt die oberirdischen Netze mit flexiblen Standards weiter auszubauen. Die faszinierend gestalteten französischen Straßenbahnstädte machen es vor. Man braucht durchweg Niederflursysteme anstelle der teuren und städtebaulich schwer integrierbaren Hochflursysteme. Man braucht dringend mehr Rasengleistrassen und Tram-Alleen. Man darf für neue Trassen gern die überdimensionierten Straßenquerschnitte umbauen. Man muss den Straßenbahnen mit intelligenter System- und Ampelsteuerung immer freie Fahrt gewähren. Und man muss endlich die Exzesse deutscher „Tunnellitis“ beenden, die regelmäßig zu massiven Kostensteigerungen und Planungsverzögerungen führen. Das aktuellste Menetekel dafür ist die zweite Stammstrecke der Münchner S-Bahn, die mit ihren oberirdischen Alternativen längst fahren könnte, stattdessen wird im Tunnel ein Planungs- und Kostendesaster angerichtet.
5. Intermodalität und Multimodalität massiv forcieren, im Personen- wie im Güterverkehr
Die Bereitschaft in der Bevölkerung, einseitige Autodominanz im eigenen Verkehrsverhalten zu überwinden, ist beachtlich gestiegen. Jetzt gilt es die Menschen mit dieser gestiegenen Bereitschaft auch mit guten alternativen Angeboten abzuholen. Dazu gehört die bessere Kombinationsfähigkeit der Infrastruktursysteme. Deutschland ist diesbezüglich immer noch Entwicklungsland. Die Zahl der Radstationen an Bahnhöfen ist immer noch erschreckend gering mit knapp über 100, gebraucht würden aber ca. 3.000-5.000. Dazu muss dringend ein gut fiskalisch hinterlegtes, einfaches Bundesprogramm mit massiver Kooperationsverpflichtung der DB AG aufgelegt werden, an dem die Länder aber engagiert mitwirken. Das seinerzeitige Landesprogramm 100 Radstationen in NRW war 1995 ein „grünes Projekt“, wo bleibt die grüne Fortsetzung solcher Programme? Auch der normale Ausbau von Bike & Ride kommt nur langsam voran, obwohl es dafür viele gute Beispiele gibt. Auch im Güterverkehr ist Intermodalität gefragt. Dafür müssen wieder dezentrale Güterbahnsysteme aufgebaut werden, mit eigenen Güter-S-Bahn-und Regionalbahnsystemen, dezentralen Umschlaganlagen und moderner Nutzung der vielen leer rumstehenden Güterschuppen und ungenutzter Güterrampen der alten Bahn. Aus der in den 1990er Jahren leider weitgehend verpufften Initiative für mehr City-Logistik muss ein neues Programm für eine moderne Landlogistik nach skandinavischem Vorbild mit flächendeckenden Kombibus- und Kombibahnangeboten entwickelt werden, und zwar sofort mit massiven Budget- und Personalansätzen bei Bund, Ländern, Regionen und Kommunen als eine der wichtigsten Teilaufgaben der Verkehrswende.
6. Deutschlandtakt und Deutschlandticket als Fundament der Verkehrswende nutzen
Die an sich begrüßenswerte und revolutionäre Offensive im Bereich der Tarife mit dem Deutschland-Ticket muss dringend fiskalisch und administrativ abgesichert werden und um den Fernverkehr in einer Abbo-Plus-Variante (BC 100 für Alle!) erweitert werden, nach dem Vorbild des österreichischen Klima-Ticket. Das tolle Tarifexperiment darf aber nicht zum fiskalischen Sargnagel der Verkehrsunternehmen werden. Um den ersten Schritt angemessen fortzusetzen, müssen die bestehenden Verkehrsverbünde, deren bisherigen Tarifaufgabe damit weitgehend obsolet ist, zu Mobilitätsverbünden erweitert werden, mit Kompetenz für den gesamten Umweltverbund und die moderne intermodale Mobilität. Hier müssen Bund und Länder zusammen mit den betroffenen Spitzenverbänden umgehend eine Reformpaket schnüren. Das neue Netzwerk Mobilität in NRW kann dafür als Ideenspeicher dienen.
Schlimm ist, dass die Bundesregierung die Deutschlandtaktchance auf doppelte Weise zu verspielen droht: erstens will sie dessen definitive Umsetzung auf lange Zeit (2075 ist klimapolitisch schon der St. Nimmerleinstag) herausschieben. Zweitens aber macht sie daraus eine Mogelpackung, indem sie die ursprüngliche Priorität im Deutschlandtakt für den Nahverkehr (der eine Erfindung primär des Nahverkehrs und seiner damaligen Aufgabenträger-Organisation BAG war) zu Gunsten des Fernverkehrs umpolt. Diese Fernverkehrsfixierung der Bahnvorstände und des Aufsichtsrates sowie des zuständigen Bundesministeriums geht voll am Markt vorbei. 90 % aller Bahnkunden sind im Nahverkehr unterwegs. Und 80 % aller Staus auf deutschen Autobahnen sind Nahverkehrsstaus. Verkehrswende muss hier ansetzen. Den Nahverkehr massiv ausbauen. Seine Netze erweitern und ertüchtigen. Und gleichzeitig den Ausbau der Nahverkehrsstraßennetze (heute werden noch viele Ballungsraumautobahnen auf 6-8 Spuren je Richtung ausgebaut) massiv bremsen. Nur so wird Verkehrswende gelingen.
7. Generalsanierung sinnvoll gestalten
Das aktuelle Konzept der Generalsanierung ist verkehrswendekontraproduktiv. Es sieht lang dauernde Vollsperrungen wichtiger Bahnstrecken vor. Bietet also den aktuell immer mehr umsteigewilligen Menschen ein Desaster von massiven Umwegen, Verspätungen und Schienenersatzverkehren an. Und spart die Tausenden Langsam Fahrstrecken und veralteten Stellwerke und störanfälligen Bahnübergänge etc. aus der Generalsanierung aus. Es ist also keine Generalsanierung, sondern eine Minimalsanierung, allerdings mit maximalem Schaden. Stattdessen muss deutsche Ingenieurs- und Organisationskunst endlich wieder das Sanieren unter rollendem Rad angehen, mit dem die Schweiz ihr Netz stets auf hohem Stand hält. Für alle mehrgleisigen Strecken ist das die minimal disruptive Alternative. Und die Fixierung auf nur 3.000 km Hauptnetz muss sofort für eine wirkliche Genrealsanierung des ganzen Netzes aufgegeben werden. Tausende kleine Maßnahmen sind dafür nötig und ein Planungs- und Baustellenmanagement, das die leider dominante Konzentration auf ein kleines sog. Kernnetz aufgibt und endlich wieder den Ansatz eine Flächenbahn verfolgt, die im ganzen Lande und in allen Regionen Verkehrswende möglich macht und engagiert den noch betriebsbereiten Bestand pflegt und ausbaut und den stillgelegten Bestand schnellstmöglich reaktiviert.
Fazit: Deutschland braucht für die Verkehrswende eine Flächenbahn und einen Flächenbus und eine Fixierung auf Kosteneffizienz, mehr regional ausgewogene Verteilung, flexible Standards und eine Transformation des autofixierten Verkehrssystems in ein klimagerechtes und zukunftsfestes Verkehrssystem.
Ein Kommentar zu “rail blog 161 / Heiner Monheim”