rail blog 164 / Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21

Rede von Dr.Gregor Gysi, Mitglied des Bundestages, auf der 675. Montagsdemo am 11.9.2023

Videoaufzeichnung

Liebe Stuttgarterinnen und Stuttgarter, liebe Gäste der Stadt,

ich finde es toll, dass Ihr nicht klein beigebt und mit Eurer Beharrlichkeit, Eurer Widerstandskraft, Eurem Kenntnisreichtum, Eurer Konsequenz ein Zeichen gegen sinnlose Großprojekte setzt.

Die Bewegung gegen Stuttgart 21 hat als Protest den längsten Atem in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland bewiesen. Und deshalb werdet Ihr auch damit nicht aufhören und habt meinen Respekt. Ihr seid damit auch Vorbild für das Engagement in anderen Städten und Regionen. Es geht hier in Stuttgart und an vielen anderen Orten der Republik darum, dass die Bürgerinnen und Bürger sich in die Politik einbringen und diese aktiv mitgestalten wollen. Und immer, wenn das konkret wird, geht das den herrschenden Politikerinnen und Politikern mächtig auf die Nerven. Und es ist Eure Pflicht, ihnen auf die Nerven zu gehen. Das ist eine Erfolgsgeschichte des bürgerschaftlichen Engagements.

Es wurde schon angedeutet, dass es den Entwurf für ein Planungsbeschleunigungsgesetz gibt, das im Bundestag beschlossen werden soll. Das klingt ja erst mal sehr gut, das geht dann alles schneller, weniger Bürokratie für Investitionen usw. – und das Ganze dann noch für die Infrastruktur. In Wirklichkeit steckt nichts anderes dahinter, als bei solchen Großprojekten wie Stuttgart 21 die Mitwirkung der Bürgerinnen und Bürger so weit wie möglich zurückzudrängen. Deshalb darf dieses Gesetz nicht in Kraft treten!

Eure Geschichte ist die Geschichte des bürgerschaftlichen Engagements, auch wenn bis jetzt nicht immer und überall die Ziele erreicht werden konnten. Aber wenn man damit aufhört, bloß weil es Niederlagen gibt, dann gibt es überhaupt kein bürgerschaftliches Engagement mehr. Deshalb ist es so wichtig, dass Ihr nicht aufhört. Aber ein Projekt wie Stuttgart 21, das nicht eines der vielen Versprechen hält, die dazu gemacht wurden, wird ja nicht dadurch besser oder sinnvoller, wenn man es einfach immer weiter baut und den schon versenkten Milliarden noch weitere hinterherwirft. Außerdem kann ich mich noch an einen Volksentscheid erinnern – da war ich auch hier. Wissen Sie noch, welche Summen auf den Plakaten standen, was Stuttgart 21 angeblich kosten soll? Ich weiß gar nicht, ob ein Volksentscheid gültig ist, wenn er mit solchen Lügen gespickt worden ist, wie es damals der Fall war.

Ich hatte gedacht, wir in Berlin haben mit dem Flughafen BER das Projekt der größten Verschwendung und der größten Fehlleistungen der öffentlichen Hand in Deutschland verzapft. Aber ich muss zugeben, Stuttgart 21 hat uns inzwischen überholt. Aber darauf, dass wir lange Platz 1 waren und jetzt auf Platz 2 gerutscht sind, bin ich nicht stolz. Aber auf diesen ersten Platz sollte auch Stuttgart nicht stolz sein und schon gar nicht die Deutsche Bahn AG, deren Eigentümer übrigens zu 100% der Bund ist. Und deshalb trägt auch die Bundesregierung Verantwortung für alles, was hier geschieht und für alles, was hier nicht geschieht. Allein, wenn ich lese, dass die Zahl der schon gebohrten Tunnelkilometer unter Stuttgart nun nochmal verdoppelt werden soll, wird deutlich, dass man eine solche Fehlplanung nicht mehr korrigieren kann.

Man kann das nicht mehr reparieren, so nach dem Motto, jetzt müssen wir noch eine halbe Milliarde investieren und dann ist wenigstens alles fertig – dieser Eindruck wird ja immer vermittelt. Nein, das ist falsch, man muss auch den Mut haben zu sagen: Es war eine Fehlentscheidung und wir stoppen die jetzt und bezahlen nur noch die Rekonstruktion. Nichts wird besser, nichts wird gut – und die Milliarden wären viel besser dafür eingesetzt, dass die Bahn die Fläche bedient, endlich wieder pünktlich fährt und gerade auf den Regionalstrecken deutlich mehr Züge einsetzt.

Bei Stuttgart 21 ist ein Ende mit Schrecken für nahezu alle Beteiligten besser als ein Schrecken ohne Ende. Und sonst wird aus Stuttgart 21 erst Stuttgart 25, dann Stuttgart 30 und irgendwann Stuttgart 2100. Aber das heißt, dass ich es dann nicht mehr erlebe – das einzig Beruhigende.

Es ist sicher ein Problem, dass inzwischen schon so viel Geld der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler verbaut worden ist. Das war letztlich auch ein Argument, warum der BER an seinem falschen Standort zu Ende gebaut wurde. Es käme jetzt also darauf an, die Entscheider bei der Bahn und in der Politik zu etwas zu bewegen, was eben den meisten Menschen nicht leichtfällt: eine Fehlentscheidung zu korrigieren. Wir erleben beinahe täglich in der Politik, wie sehr man sich auch irren kann, und dass die Korrektur von irrtümlichen Entscheidungen nicht schlimm oder ehrverletzend ist, sondern schlicht und einfach sinnvoll. Vielleicht sollten sich die Verantwortungsträgerinnen und -träger in diesem Land ein Beispiel an Bodo Ramelow, dem linken Ministerpräsidenten von Thüringen, nehmen, der offen sagte, wenn er bei seinen Einschätzungen und Entscheidungen falsch lag. Ich habe das noch nie von einem anderen Ministerpräsidenten oder einer anderen Ministerpräsidentin gehört, geschweige denn von einer Kanzlerin oder einem Kanzler. Aber es wäre höchste Zeit.

Ich finde es wirklich bedenklich, wenn gerade die Grünen in Baden-Württemberg bei einem Projekt, das auch umweltpolitisch so gravierende Schwächen und Fehlleistungen enthält, bisher nicht dazu in der Lage und willens sind, die Reißleine zu ziehen. Bei Stuttgart 21 ist es höchste Zeit! Und dazu gehört zweifellos Mut – und diesen Mut müsst ihr den Verantwortlichen machen, dass sie sich von den falschen Voraussetzungen, unter denen dieses Projekt ihnen und allen anderen verkauft wurde, endlich lösen. Sie tragen ja gar nicht mal die unmittelbare Schuld. Sie müssen sich nur einmal einen Ruck geben.

Und Ihr müsst ihnen da zureden, dass sie den Mut dazu haben und sagen: „Ja, das Ganze war Mist und wir korrigieren das einfach“. Und die Milliarden Steuergelder, die von den Bürgerinnen und Bürgern gezahlt wurden und von keinem anderen, sind ja nun schon fehlinvestiert. Aber nun soll man uns nicht zwingen, weitere Milliarden sinnlos auszugeben, das ist genau der Punkt, der korrigiert werden muss.

Denn letztlich ist Stuttgart 21 schon heute aus der Zeit gefallen. Man kann das gut am BER sehen, was das heißt und wie das aussieht, wenn ein solches Projekt zumindest teilweise von der Zeit überholt worden ist. Der BER war ja nicht mal eine außergewöhnliche Idee in Sachen Architektur. Das BER-Gebäude sieht ja einfach nur langweilig aus. Ich dachte, da entsteht so eine Art Flugzeug oder irgendetwas, das man sich gerne anschaut. Aber nein, einfach nur langweilig und dann noch sehr teuer. Und das ist das Ding zu viel!

Deshalb ist es wichtig, dass Ihr nicht nachlasst und weiter darum ringt, dass die Vernunft sich durchsetzt. Es ist so schwer, in der Politik dafür zu streiten, dass sich Vernunft durchsetzt – mehr will ich ja im Augenblick gar nicht. Es wäre aber schon ein gewaltiger Fortschritt, wenn man das erreichte.

Dafür drücke ich Euch die Daumen und fordere die Regierenden in Bund und Land auf, endlich ein

Stoppzeichen für Stuttgart 21 zu setzen, denn schließlich ist – ich sage es noch einmal – der Bund 100% Eigentümer der Bahn. Es ist wirklich an der Zeit, dass wir alle als Eigentümer den Konzernverantwortlichen sagen, was geht und eben auch, was nicht geht. Ich möchte nicht länger, dass die Konzernchefs entscheiden, was der Kanzler macht, sondern dass endlich wieder die Politik zu entscheiden hat, was die Konzernchefs machen. Es wird höchste Zeit!

Ich wünsche Euch alles Gute, bis zum nächsten Mal!

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