rail blog 164 / Joachim Holstein

Berlin und die DDR im DB-Kursbuch

DB-Kursbücher aus der Zeit vor 1991 stellen eine ganz besondere Art von politischer Schizophrenie unter Beweis: einerseits wollte die Bundesrepublik dem Gebiet zwischen Kap Arkona und Mödlareuth eine Vorzugsbehandlung angedeihen lassen (wer von dort in die Bundesrepublik emigrieren wollte, musste kein Asyl beantragen, wurde nicht als »Wirtschaftsflüchtling« diffamiert und bediente sich keinen »kriminellen Schlepperbanden« sondern »Fluchthelfern«). Andererseits durfte aus Sicht bestimmter westdeutscher Kreise kein zweiter deutscher Staat existieren – »Auch drüben ist Deutschland« lautete die Parole.

Das hatte übrigens die ironische Nebenwirkung, dass die DDR neben Stahl- und Chemieprodukten auch Praktica-Kameras, Nordhäuser Doppelkorn und Dresdner Christstollen als »made in Germany« vermarkten durfte.

Bei den Kursbüchern hatte das Dogma, das UNO-Mitglied DDR sei für das UNO-Mitglied BRD kein Ausland, die ganz praktische Konsequenz, dass man im »Auslandskursbuch« der Deutschen Bundesbahn keinen Abschnitt über die DDR vorfand. Man konnte also erkunden, wie man von Göteborg nach Kiruna oder von Porto nach Lissabon fahren konnte – aber nicht, wie man von Schwerin nach Neubrandenburg oder von Nordhausen nach Erfurt kommen konnte, von Verbindungen auf den Brocken, mit »Molli« oder dem »Rasenden Roland« ganz zu schweigen. Das spätere »Beitrittsgebiet« existierte im DB-Kursbuch nur als stiefmütterlich behandeltes Anhängsel der Bundesrepublik, nämlich in den Abschnitten »Fernverbindungen mit Berlin« und »Fernverbindungen mit der DDR«. Man konnte also alle Verbindungen von Hamburg via Büchen/Schwanheide, von Hannover über Helmstedt/Marienborn, von Frankfurt über Bebra/Gerstungen und von Bayern über Ludwigsstadt/Probstzella bzw. über Hof/Gutenfürst nach Berlin nachschlagen, dazu wurden dann Zugverbindungen angezeigt, die über diese Übergänge oder via Lübeck/Herrnburg und Wolfsburg/Oebisfelde in die DDR führten. Die S-Bahn in Westberlin kam nirgends vor, denn die wurde ja von der Deutschen Reichsbahn betrieben und sollte von aufrechten Frontstädtern boykottiert werden, womit die DB die Auffassung »Westberlin ist kein Teil der Bundesrepublik« faktisch anerkannte.

Als in der ersten Hälfte der 1990er Jahre westdeutsche Politiker und Medien ganz erstaunt feststellten, dass der durchschnittliche Bundesdeutsche über Mallorca, den Gardasee und die Rocky Mountains wesentlich mehr wusste als über Rügen, den Müggelsee und das Elbsandsteingebirge, hätte man sagen können: Kein Wunder.

Als Anschauungsmaterial eignet sich so ein Kursbuch jedenfalls ganz gut. Es gab im Sommer 1982 folgende Verbindungen von Berlin in die Bundesrepublik; Abfahrtszeit jeweils Berlin Friedrichstraße:

05:48   D 350 nach Frankfurt/Main mit Kurswagen ab Bebra nach Kassel

06:14   D 348 nach Köln mit Kurswagen ab Braunschweig nach Norddeich und aus Bad Harzburg ab Hannover

06:36   D 303 nach München mit Kurswagen ab Nürnberg nach Stuttgart, ab Augsburg nach Oberstdorf und aus Leipzig ab Bamberg

07:00   D 1332 nach Westerland mit Kurswagen ab Büchen via Lübeck nach Kiel, via Lübeck nach Neustadt(Holstein) und ab Niebüll nach Dagebüll

07:09   D 246 nach Köln mit Schlafwagen aus Leningrad

08:46   D 309 aus Kopenhagen (via Warnemünde) nach München mit Kurswagen aus Malmö (via Saßnitz) sowie ab Regensburg samstags nach Passau sowie in der Hochsaison donnerstags und samstags nach Bayerisch Eisenstein

09:41   D 1330 nach Westerland, in der Hochsaison am Wochenende (mit Autobeförderung nach Niebüll und Westerland)

10:23   D 346 nach Köln mit Kurswagen aus Bad Harzburg ab Hannover

12:06   D 344 nach Hoek van Holland mit Kurswagen ab Braunschweig nach Köln, ab Braunschweig nach Frankfurt/Main, ab Hannover nach Norddeich und aus Bad Harzburg ab Hannover

12:35   D 354 nach Paris (via Bebra) mit Kurswagen aus Heidelberg ab Ludwigshafen

13:13   D 338 nach Hamburg Altona mit Kurswagen ab Büchen nach Kiel

15:19   D 242 aus Warschau nach Paris (via Köln)

16:13   D 342 nach Hannover, freitags und sonntags weiter nach Düsseldorf

16:52   D 336 nach Hamburg Altona

18:49   D 1307 nach München Ost, freitags in der Hochsaison (mit Autobeförderung nach München Ost, Innsbruck und Villach)

20:03   D 1350 nach Lörrach, freitags (mit Autobeförderung nach Karlsruhe-Durlach und Lörrach)

21:21   D 301 nach München mit Kurswagen ab Nürnberg nach Stuttgart und ab München nach Verona

22:18   D 358 nach Basel mit Kurswagen aus Moskau nach Bern (donnerstags, freitags und sonntags) und ab Karlsruhe nach Freudenstadt

22:38   D 1301 nach Konstanz mit Kurswagen ab Hof nach München, ab Eutingen nach Freudenstadt und aus Prag ab Nürnberg (bis Stuttgart)

23:12   D 244 aus Brest nach Oostende und Schlafwagen aus Moskau

23:40   D 240 aus Moskau nach Paris (via Köln) mit Schlafwagen aus Kiew

0:22     D 1244 aus Warschau nach Hoek van Holland, mit Schlafwagen aus Moskau

Was für eine Vielfalt an Direktverbindungen, teilweise mit einzelnen Kurswagen, die für ein paar Dutzend Kilometer an einen Eilzug gehängt wurden! Und während es vor über 40 Jahren zwischen Kopenhagen und München neben einem Zug via Hamburg und Würzburg auch einen Zug mitten durch die DDR gab, macht die DB mit ihrem einzigen Zug zwischen Berlin und Wien lieber einen Umweg über Nürnberg und Passau, als via Prag zu fahren.

Über Joachim Holstein

(*1960) arbeitete von 1996 bis 2017 als Steward in Nacht- und Autozügen der DB, war von 2006 bis zur Einstellung dieser Verkehre Betriebsrat der DB European Railservice GmbH und zuletzt Sprecher des Wirtschaftsausschusses. Mitbegründer der Initiative zur Rettung des Nachtzuges Hamburg-Paris (2008; »Wir wollen nach Paris und nicht an die Börse«) und des europäischen Netzwerks für Nachtzüge »Back on Track« (2015; https://back-on-track.eu/de/); Weiteres unter www.nachtzug-bleibt.eu

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