Reaktivierung von Bahnstrecken: Beachtliche Initiative von Allianz pro Schiene und VDV
Am 23.10. 2023 haben die Allianz pro Scheine und der Verband Öffentlicher Verkehrsunternehmen VDV in einer gemeinsamen Pressekonferenz ihre Position zur Reaktivierung von Bahnstrecken vorgestellt. Seit mittlerweile gut 15 Jahren werben sie bei der DB AG, beim Bund und den Ländern für das Thema Reaktivierung, das leider lange Zeit ein Randthema der deutschen Bahnpolitik blieb, ganz im Schatten der milliardenschweren Großprojekte der Hochgeschwindigkeitsbahn.
Mehr Lückenschlüsse im ländlichen Bahnnetz nötig
„Bürgerbahn- Denkfabrik für eine starke Schiene“ begrüßt sehr die gemeinsame Initiative der wichtigen Verbände. Anlass für die Pressekonferenz war ein Bericht über die sehr unterschiedliche Praxis der Länder bei der Reaktivierung von stillgelegten Schienenstrecken und der Vorbereitung der Reaktivierungen durch Machbarkeitsstudien. Die Länder sind ja in der Regel direkt oder indirekt über ihre Zweckverbände Aufgabenträger für den Schienenpersonennahverkehr. Und der kann nur fahren, wo es auch betreibbare Netze gibt. Die vielen Streckenstilllegungen haben aber viele schmerzliche Lücken in das Schienennetz gerissen. Davon betroffen waren vor allem große Teile des ländlichen Raumes mit seinen vielen Klein- und Mittelstädten. Ursprünglich hat die alte Flächenbahn auch alle ländlichen Regionen mit einem dichten Streckennetz und vielen Bahnhöfen und Haltepunkten bedient.
Wichtige Rolle von Machbarkeitsstudien
Einige Bundesländer forcieren das Thema Reaktivierung mit der Förderung von Machbarkeitsstudien für Reaktivierungsprojekte. Und sie vergeben eigene Rahmenstudien, die jenseits von einzelnen Projekten die landesweite Relevanz des Themas aufzeigen. Spitzenreiter bei den Machbarkeitsstudien mit positivem Ergebnisse sind Baden-Württemberg mit 22 positiven Machbarkeitsstudien und Nordrhein-Westfalen mit 16 positiven. Schlusslichter sind Sachsen-Anhalt, Thüringen und das Saarland mit jeweils nur einer positiv abgeschlossenen Machbarkeitsstudie. In den beiden führenden Bundesländern gibt es auch die größte Zahl bereits erfolgreich abgeschlossener Reaktivierungen. Generell kam 75 % aller ausgewerteten Reaktivierungsstudien zu dem positiven Ergebnis, dass die Reaktivierung verkehrlich sinnvoll ist.
Reaktivierungen auch für den Güterverkehr auf der Schiene wichtig
Der Wert wären noch deutlich höher, wenn bei den Diskussionen über Reaktivierungen auch der Schienengüternahverkehr (SGNV) betrachtet würde. Denn ursprünglich wurden fast alle Bahnstrecken sowohl im Personen- als auch im Güterverkehr genutzt. Oft erfolgte die Stilllegung im Personenverkehr früher und es gab noch Reste von Güterverkehrsbedienung, bevor sich dann unter dem Druck der damaligen Sparpolitik die Güterbahn weitgehend aus der Fläche zurückzog und der Straße kampflos den Verkehrsmarkt überlassen hat. Mit der Folge immer längerer Lkw-Staus und immer längerer Neu- und Ausbaulisten in der Autobahnplanung.
Tourismus als wichtiger Zukunftsmarkt
Bei den meisten Reaktivierungsstudien werden konventionelle Nachfrageprognosen erstellt, die nur die Hauptnutzergruppen Ausbildungs- und Berufspendler betrachten. Dabei spielen in den ländlichen Regionen, die ja vielfach zu den Küstenregionen und Mittelgebirgsregionen gehören und auch viele historische Stadtkerne beherbergen, die touristischen Verkehre (Urlaub, Wochenende und Tagestourismus) eine besondere Rolle, die bislang – auch wegen der vielen Stilllegungen vergangener Jahrzehnte – ganz überwiegend Pkw-basiert abgewickelt werden. Deswegen muß dieses Marktsegment viel stärker bei den Machbarkeitsstudien und ihren Potenzialanalysen berücksichtigt werden. Die Wirtschaftlichkeitsberechnungen der standardisierten Bewertung blenden aber den touristischen Markt weitgehend aus, weil die Datengrundlagen dafür schlechter sind. Die Verkehrswende kann aber nur gelingen, wenn sie auch den touristischen Verkehr einbezieht. Ein Grund mehr für viele Reaktivierungen im ländlichen Raum.
Große Bedeutung lokaler und regionaler Initiativen
Viele Reaktivierungen werden zunächst nicht von oben über die DB AG und auch nicht von oben über das Bundesverkehrsministerium oder über die Landesverkehrsministerien forciert. Die Initiative kommt meist von unten, von engagierten Bürgerinitiativen, Vereinen, regionalen Gliederungen von VCD oder pro Bahn. Manchmal engagiert sich auch die regionale Wirtschaft für das Thema. „Oben“ gibt es vielmehr oft noch Skepsis, ob sich Reaktivierungen lohnen. Deswegen sind Machbarkeitsstudien ein wichtiges Hilfsmittel, die Chancen besser auszuloten. Aber dabei gibt es ein paar wichtige Merksätze, die bei den entsprechenden Studien beachtet werden sollten und die von den örtlichen Initiativen für ihre schwierigen Debatten mit der lokalen und regionalen Politik und mit der Landes- und Bundesverkehrspolitik bedacht werden sollten:
SPNV und SGNV gemeinsam betrachten
Reaktivierung tut nicht nur Not für den Personenverkehr, sondern macht am meisten Sinn, wenn auch die Potenziale regionaler Güterbahnangebote berücksichtigt werden. Dabei stellt sich aber das Problem, dass sich die große Güterbahn der DB AG schon lange vom regionalen Güterbahnverkehr verabschiedet hat. Viele Güterschuppen stehen leer, wurden zweckentfremdet oder abgerissen. Viele Güterrampen und Gütergleise sind von der Natur überwuchert. Mögliche Betriebe längs der Reaktivierungsstrecken wurden durch Desinteresse der DB Cargo systematisch „vergrämt“. Anders als beim regionalisierten SPNV gibt es leider bis jetzt auch keine passenden Organisationsstrukturen für einen regionalisierten SGNV. Denn der regionale Güterverkehr wurde bei der Bahnreform vergessen. Deswegen fordern Allianz pro Schiene und VDV, künftig bei Machbarkeitsstudien und nachfolgenden Reaktivierungen den Schienengüterverkehr einzubeziehen.
Flexible, kostensenkende Standards
Im Allgemeinen gilt Schienenverkehr als teuer. Das war ja viele Jahrzehnte lang der Grund, warum man ihn durch scheinbar billigeren Busverkehr und Lkw-Verkehr ersetzt hat. Aber die Attraktivität der Busverkehre und ihre Akzeptanz beim wahlfreien Publikum war im ländlichen Raum meist deutlich schlechter als auf vergleichbaren Bahnverbindungen. Daraus ergeben sich zwei zentrale Fragen in den Reaktivierungsdebatten: wie kann man den reaktivierten Schienenverkehr kostengünstiger machen? Und wie kann man den Busverkehr, der natürlich auch seine Berechtigung hat, sinnvoll in Reaktivierungskonzepte integrieren?
Differenzierte Fahrzeug- und Infrastrukturkonzepte
Die Frage der Kosten hängt unmittelbar zusammen mit den Fahrzeug- und Infrastrukturkonzepten. Was sind die für ländlichen Schienenverkehr angemessenen Fahrzeugformate? Gibt es moderne Optionen für mittlere und kleine Fahrzeugformate mit deutlich geringeren Anschaffungskosten und Folgekosten bei Bahnsteigen und Fahrwegen? Und wie kann man sinnvolle Bus-Schiene-Konzepte entwickeln, in denen die Bahn durch lokale und regionale Busnetze angemessen „gefüttert“ wird, die in Netz und Takt und Tarif gut integriert sind?
Vorbild Schienenbus
Der alte Schienenbus hatte ein in vieler Hinsicht ideales Format für den ländlichen Bahnverkehr. Er war nicht zu groß, nicht zu schwer, nicht zu schnell. Als gut traktionsfähiges Wendefahrzeug mit kleinen Einheiten war er gut in effektive Betriebskonzepte mit Taktverkehren integrierbar. Leider wurden aber diese Fahrzeuglinien seit den 1980er Jahren verlassen; die neuen Regionalbahntriebwagen waren zwar auch meist Wendefahrzeuge, aber deutlich größer, schwerer und für höhere Geschwindigkeiten höher motorisiert und dadurch teurer.
Sargnagel Zentralisierung der Stellwerke
Leider war die von Sparkommissaren forcierte Zentralisierung des Stellwerksbetriebs oft der letzte Sargnagel für viele ländliche Bahnstrecken. Moderne elektronische Stellwerkstechnik macht es dagegen möglich, auch mit geringem Aufwand reaktivierte Strecken logistisch zu integrieren.
Sargnagel „Parallelverkehr“
Obwohl die Landesnahverkehrsgesetze explizit die Konkurrenzierung der Schiene durch parallele Buslinien ausschließen wollten, hat es vielfach solche Parallelverkehre gegeben. Sinnvolle Bus-Schiene-Konzepte wurden dagegen viel zu wenig entwickelt, weil der Busverkehr ja meist in der Aufgabenträgerschaft der Landkreise gestaltet wurde und die DB für diese ein schwieriger Partner war. Die seit den 1990er Jahren vereinzelt sehr erfolgreich etablierten neuen, innovativen Orts- und Stadtbussysteme haben sich leider wegen der defensiven Praxis der meisten Landkreise und Kommunen nicht angemessen durchsetzen können. Von den 2730 Klein- und Mittelstädten in Deutschland besitzen mal gerade ca. 200 solche innovativen Systeme (=7%), der Rest wird nur regional bedient und erreicht wegen der typische Mängel in der Feinerschließung und Fixierung der Fahrpläne auf den Schülerverkehr nur minimale Marktanteile in der ländlichen Mobilität.
Verkehrswende muss alle Hebel bewegen
Mehr denn je ist der gängige Mythos falsch, im ländlichen Raum könne es keine Alternativen zum Autoverkehr mit Pkw und Lkw geben, mit dem bislang die wuchernden Straßenbaukonzepte begründet werden. Die klimapolitisch dringend notwendige Verkehrswende darf sich nicht allein auf die Metropolen und Großstädte beschränken. Deswegen muss jetzt der von VDV und Allianz pro Schiene dargestellte „Schneeball“ schnell zu einer anschwellenden „Lawine“ werden. Der Bund muss durch ein eigenes REAKT-Investitionsprogramm kräftige Impulse für mehr Reaktivierungen setzen. Die Länder müssen ihrerseits Förderprogramm für Machbarkeitsstudien auflegen und gesamthaft für das jeweilige Bundesland Rahmenstudien vergeben, mit denen die Systemeffekte auf die Landesverkehrsentwicklung untersucht werden.
Flexible Standards, Mischformen von EBO und BOStrab, Fahrzeuginnovationen
Der Bund muss die immer noch sehr kostentreibenden, unflexiblen Fahrzeug- und Infrastukturstandards absenken und flexibilisieren. Im Bereich der Fahrzeugtechnik muss der Bund im Rahmen seiner F & E- und Technologieförderung die Entwicklung innovativer Fahrzeugkonzepte forcieren. Die Eisenbahn-Bau- und Betriebsordnung EBO braucht eine gründliche Überarbeitung mit angemessenen Variationen für ländliche Schienenstrecken. Die guten Erfahrungen mit gemischten Netzkonzepten nach dem Karlsruher Modell und seinen Nachfolgeprojekten in Kassel, Saarbrücken und Chemnitz müssen für neue, flexible Betriebsordnungen genutzt werden. Die Fahrzeugindustrie braucht dringend ein kostengünstiges Nachfolgeprodukt für den alten Schienenbus auf akkuelektrischer und Oberleitungsbasis.
Autonomes Fahren ATO auf der Schiene
Der Fachkräftemangel erweist sich immer mehr als Achillesverse der Verkehrswende und der Bahnrenaissance. Lokführer sind Mangelware. Viel wird derzeit über Lufttaxis oder Hyperloop- HGV-Verkehre in unterirdischen Röhren oder über Roboterautos im Level 4 und Level 5 fabuliert. Dabei sind die Potenziale für Autonomes Fahren auf ländlichen Schienenstrecken ungleich größer. Dieser erfolgt sowieso schon mit modernen Stellwerken zunehmend „ferngesteuert“. Die Abwicklung der Bewegungen von Schienenfahrzeugen ist wegen der Spurführung viel leichter steuerbar. In ländlichen Schienennetzen müssen auch keine Hochgeschwindigkeitsverkehre angedacht werden. Daher sollte bei allen Reaktivierungen immer auch die Option autonomer Schienenverkehre im Personen- und Güterverkehr mitgedacht werden. Dadurch wachsen die Potenziale auch für solche Schienenstrecken, bei denen derzeit aufgrund geringer Besiedlungsdichten noch ausreichende Fahrgastpotenziale für eine angemessene Wirtschaftlichkeit bezweifelt werden.