rail blog 211 / Michael Jung

Anspruch und Wirklichkeit

Die Politik spricht allerorten vom Ausbau des Schienenverkehrs und der Schaffung einer „Starken Schiene“. Liest man aber in den gängigen Eisenbahnpostillen wie „Die Drehscheibe“ oder „Der Schienenbus“ unter der Rubrik „Streckenmeldungen“ die Berichte über anhängige Baumaßnahmen auf den einzelnen Kursbuchstrecken der DB, dann fällt einem besonders häufig das Wort „Rückbau“ auf. Das heißt nichts anders als der Abbau bestehender Eisenbahninfrastruktur, was dann als Modernisierung bemäntelt wird.

Besonders krass wird das in der Meldung zur KBS 970 München –Lindau in „Der Schienenbus 5/2023, S 86/87)“ deutlich. Dort wird die Bestandsinfrastruktur des Bahnhofs Kempten im Allgäu Hbf. wie folgt beschrieben: Hausbahnsteig am Gleis 1 (330 m lang), Mittelbahnsteig zwischen den Gleisen 2 und 3 (417 m lang) und Mittelbahnstieg zwischen den Gleisen 4 und 5 (438 Meter lang), alle 38 cm hoch. Alle Bahnsteige verfügen über ein je 144 m langes Bahnsteigdach. Südwestlich von Gleis 1 gibt es noch das Stumpfgleis 10, dort wurden früher die Waggons für die Autoreisezüge be- und entladen. Die Bahnsteige sind untereinander mit einer 75 m langen Fußgängerunterführung verbunden, diese können von der einen Seite per Treppe von der andren Seite per Rampe (Neigung 7,8%) erreicht werden.  Vollmundig heißt es dann, dieser Bahnhof soll „barrierefrei“ ausgebaut werden. Die Maßnahmen umfassen: Erhöhung der Bahnsteighöhen von 38cm auf 55 cm. Inwieweit das einen barrierefreien Einstieg ermöglichen soll bleibt schleierhaft, weil üblicherweise die Bahnsteighöhen im Fernverkehr und Kempten liegt ja nun an der Hauptstrecke von München nach Zürich 76cm hohe Bahnsteig haben. Ferner werden die Bahnsteige alle auf rd. 260 Meter verkürzt, ebenso wie die Bahnsteigdächer auf Stummelbauten von 65 bis 105 Meter Länge!!! Der Clou schlechthin ist, dass die Rampen, die immer funktionieren, beseitigt und durch (üblicherweise störanfällige) Aufzüge ersetzt werden und – entlarvender geht es nimmer – „an den nördlichen Bahnsteigenden wird ein höhengleicher Notübergang als Ersatz für einen evtl. ausfallenden Aufzug errichtet“!!!  Was für ein verqueres Verständnis von Barrierefreiheit steckt dahinter! Das I-Tüpfelchen dieser ganzen „Modernisierungsmaßnahmen“ ist dann noch, dass die Rampen zu den Waggons für den Autoreisezug ersatzlos abgebrochen werden.  Und für diese im Wesentlichen, bis auf die Bahnsteigerhöhung überflüssigen, Baumaßnahmen werden dann noch mehre als zwei Jahre, genannt werden 27 Monate (nach DB-Praxis vermutlich 40 Monate) veranschlagt.

Nun handelt es sich bei Kempten nicht um irgendeinen Provinzbahnhof, sondern um einen wichtigen Unterwegshalt an der Hauptstrecke München – Zürich, mit knapp 7.000 Fahrgästen/Tag. Die Verkürzung der Bahnsteige führt dann dazu, dass angesichts der steigenden Nachfrage auf dieser Strecke keine längeren Züge mehr dort halten können. Hat man erst die Infrastruktur kastriert, dann darf man sich aber nicht über überfüllte Züge in Folge des 49 Euro Tickets aufregen, wenn diese wegen des Abbaus der Infrastruktur nicht mehr bedarfsgerecht verlängert werden können.

Klar ist: Mit einem DB Management, das solche „Modernisierungsmaßnahmen“ umsetzt lässt sich die Verkehrswende nicht bewältigen.

Über Michael Jung

Jahrgang 1950, Dipl.-Volksw., arbeitete zuerst in einem Großkonzern der Mineralölwirtschaft und dann 28 Jahre bei einer deutschen Großbank, davon 10 Jahre lang im Bereich Finanzierung von Eisenbahn- und Nahverkehrsprojekten weltweit. Seit 8 Jahren ist er Sprecher der Bürgerinitiative Prellbock-Altona e.V., die sich für den Erhalt und Modernisierung des Fern- und Regionalbahnhofs Altona am jetzigen Standort einsetzt.

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