Desaster Stuttgart 21: Verbesserte Bedingungen im Kampf um Kopfbahnhof und Gäubahnanbindung an den HbF
Die Projektpartner und Tunnelbahnhofsunterstützer sind im hellen Aufruhr. Sie tragen ihre bisher unter der Decke gehaltenen Konflikte auf offener Bühne aus. Selbst dort, wo noch scheinbar Einigkeit demonstriert wird, ist dies Ausdruck aufgebrochener Konflikte: am 26.3. meldet die Stuttgarter Zeitung (StZ), dass die Gäubahn-Station am Stuttgarter Nordbahnhof (sog „Nordhalt“) auf Eis gelegt wird. Die sollte Umsteige-Station für Gäubahnfahrgäste Richtung Hauptbahnhof werden. Da die Sanierung der Strecke von Vaihingen zum Hauptbahnhof (Panoramabahn) jetzt aber auf einmal angeblich mehrere Jahre dauert (bei geschätzten Kosten von 50 Mio. Euro) und die Verbindungsgleise zum Kopfbahnhof länger als geplant betrieben werden müssen, würde der Nutzen des Nordhalts erheblich sinken.
Die bisher für Mitte 2025 vorgesehene Kappung der Gäubahn-Anbindung direkt an den Kopfbahnhof kann nicht stattfinden, wie bis vor kurzem propagiert. Der Kopfbahnhofhof muss – Stand heute -bis mindestens Ende 2026 in Betrieb bleiben. Ob die Wunderwaffe der Stuttgart21-Projektpartner, die „Digitalisierung des Bahnknotens“ bis dahin oder überhaupt jemals die behauptete Leistung des Tunnelbahnhofs bringen kann, ist mehr als fraglich.
Die Konflikte um die Gäubahn-Anbindung an den Kopfbahnhof markieren Weichenstellungen auch für die Frage, wie der Kopfbahnhof vor der Zerstörung geschützt werden kann.
Schon lange gibt es Kritik der Gäubahn-Anrainergemeinden an der geplanten Kappung 2024. Nicht einmal CDU-Bürgermeister nehmen der Bahn noch ab, dass ihre Zeitangaben irgendetwas mit der Realität zu tun haben.
Es blieb aber lange bei folgenlosem Gemurre. Bis im Sommer 2023 die Deutsche Umwelthilfe (DUH) mit ihren renommierten Anwälten Klage gegen die Planfeststellung und die Abbindung eingereicht hat. Mit realistischen Erfolgsaussichten, die durch das aktuell völlig „entgleiste Stuttgart21“ (Stuttgarter Nachrichten) noch erfolgversprechender werden. Denn vor dem gegenwärtigen Hintergrund können auch Gerichte erkennen: mit der Abbindung der Gäubahn und der Demontage des Kopfbahnhofs würde ein Desaster für den Bahnverkehr und die Verkehrswende angerichtet werden.
Laut Planfeststellung der Bahn AG darf die Gäubahn höchstens sechs Monate vom Hauptbahnhof abgehängt werden. Nach den aktuellen Planungen der Bahn, die Gäubahn über den Pfaffensteigtunnel und den Flughafen an den unterirdischen S21-Bahnhof anzubinden, , würde dies eine Bauzeit von mindestens sieben Jahren mit sich bringen. Unabhängige Experten halten 12 bis 15 Jahre Bauzeit für realistisch. Das würde bedeuten: Über viele Jahre ist die Strecke Zürich – Singen- Stuttgart nur bis Vaihingen anfahrbar. Kaum vorstellbar, dass unter diesen Umständen Fahrgäste oder Fernverkehrszüge in Massen auf dieser Strecke verkehren.
Jürgen Resch (DUH) motiviert in den betroffenen Orten und Regionen vor Ort, von der passiven Ablehnung in offene Opposition überzugehen. Ein Gäubahnkomitee ist formiert, und tatsächlich erhöhen die Bürgermeister den Druck auf die Bahn und auch auf die Stadtverwaltung Stuttgart und ihre S21-Unterstützer. Die derzeit noch am lautesten mit der Forderung auftritt, dass alles so und so schnell laufen müsse, wie einmal geplant.
Wenn der Plan, die Gäubahn zu kappen fällt, dann fällt öffentlich die Behauptung in sich zusammen, alles was die Projekktbetreiber planen und tun, sei das einzig ‚realistische‘, also alternativlos.
Die Glaubwürdigkeit der Projektunterstützer samt ihren offensichtlich haltlosen Mantren von Unumkehrbarkeit ist am Boden. Es öffnen sich plötzlich wieder Diskussionsräume, die viele Jahre lang völlig für indiskutabel erklärt worden waren. Die Stuttgart21-Bewegung ist nicht mehr in der Situation, dass ihre Kritik und Alternativen zu den Tunnelbahnhofsplänen als die von ewig gestrigen Realitätsverweigerern denunziert werden kann. All zu offensichtlich sind Realitätsverweigerer die, die unbedingt so weiter bauen wollen wie bisher.
Alles spricht also dafür, die Verunsicherungen und Konflikte unter den Projektbetreibern offen zu legen und zu nutzen, um weiter Druck zu machen für den Kopfbahnhoferhalt.
Die zum wiederholten mal verschobene Eröffnung des Tunnelbahnhofs samt Abbau der Kopfbahnhofgleise spült dabei eine Variante in die Debatte, dass u.U. Tief- und Kopfbahnhofbetrieb künftig parallel betrieben werden könnten. Was auch bedeutet: Gleisflächen, die die Stadt der Bahn bereits abgekauft hat, würden nicht für Vermarktung und Bebauung zur Verfügung stehen. Für die Stadtverwaltung – und Tunnelparteien ein Alptraum, weil das Wohnungsbau-Argument das letzte war, was sie noch für ihre verantwortungslose Unterstützung des Tunnelbahnhofs im Köcher hatten.
Doch der angeblich dringend nötige Wohnungsbau auf den Gleisfeldern verliert täglich an Strahlkraft. Ob Bedarf für diesen Wohnungsbau, frühestens Ende der 30er-Jahre, überhaupt noch besteht, ist sehr fraglich. Dass er bezahlbaren Mietwohnungsbau brächte, wird zwar ständig behauptet, ist mehr als unwahrscheinlich. Kein Zufall, dass es dazu nur Absichtserklärungen, aber keine verbindlichen Beschlüsse gibt. Die Stuttgarter Stadtverwaltung rechnet allein für Investition in das Rosensteingelände mit einem Betrag von mindestens einer Milliarde Euro. Die Finananzierung der bisher nicht etatisierten Erschließungs- und Bodensanierungskosten steht in den Sternen. Erst recht, wenn die Stadt zur Beteiligung an den Milliarden Mehrkosten von S21 verurteilt werden sollte.
Was man – anders als den Wohnungsbedarf 2035ff – schon heute sicher weiß ist, dass es immer heißer im Stadt-Kessel werden wird. Die Stadt-Klimatologie hat schon vor mehr als 15 Jahren geurteilt: die Abkühlwirkung der Gleisanlagen für das Innenstadtklima spielt ein wichtige Rolle, um die Innenstädter vor der zunehmenden Hitze zu schützen.
Sollte sich die öffentliche Debatte tatsächlich weiter Richtung „Parallelbetrieb von oben und unten“ entwickeln, dann ist dies ein Fuss in der Tür für den Kampf um den komplett-Erhalt des Kopfbahnhofs. Selbst die Projektunterstützende Stuttgarter Zeitung argumentierte sinngemäß gegen den (inzwischen verworfenen) Plan von Verkehrsminister Hermann, ergänzend zum S21-Bahnhof einen unterirdischen Kopfbahnhof zu bauen. Denn wenn der unterirdische tatsächlich nicht die Leistung des oberirdischen brächte, so die StZ, dann braucht man keinen zusätzlichen für weitere Milliarden unterirdisch zu bauen – denn dann stünde ja oben schon einer!
Die Debatte „Parallelbetrieb von oben unten“ – seit Heiner Geissler auch als „Kombilösung“ bekannt – ist ein Fuss in der Tür im Kampf um den Erhalt des kompletten Kopfbahnhofs – aber auch nicht mehr. Denn Parallelbetrieb von oben und unten schafft zentrale Probleme des Tunnelbahnhofs und seiner 60 km Tunnelstrecken nicht aus der Welt:
Weder den nicht existenten Brandschutz, noch die nicht existenten Rettungskonzepte im Brandfall. Starkregen-Ereignisse werden zunehmen: der Abfluss von Wassermassen im Stadtkessel wird jetzt vom Tiefbahnhofstrog an der tiefste Stelle der Stadt abgeriegelt. Das geben sogar städtische Ämter zu. Und die Bauherrin Bahn stellt sich darauf ein, indem Wassereintrittsöffnungen für Wassermassen in den Tiefbahnhofs-Trog eingebaut werden. Starkregenereignisse haben so ein Zerstörungs-Potential, das den gesamten Bahnverkehr im Tiefbahnhof auf unabsehbare Zeit ausschalten kann.
Ein Parallelbetrieb würde darüber hinaus absurd hohe Instandhaltungs-Kosten und CO2-Bilanzen im Tiefbahnhof-Tunnelsystem erzeugen. Denn das könnte nur Ergänzungsfunktion zum oberirdischen Kopfbahnhof und seinen Funktionalitäten haben.
Völlig offen bleibt auch, wie kurze Verbindungen zwischen ‚oben und unten‘ für schnelle Umstiege geschaffen werden könnten – die für Bahnreisende unzumutbaren grotesken „Fernwanderwege“ könnten auf unabsehbare Zeit erhalten bleiben.
Die Tunnelbahnhofsgegner sind also gut beraten, wenn sie fokussiert ihr konsistentes Engagement für den Erhalt des kompletten Kopfbahnhofs beibehalten. Einen Vorschlag für eine bessere, klima- und umweltfreundlichere Nutzungsmöglichkeit der Tunnelinfrastruktur haben sie darüber hinaus: das unterirdische Warenlogistikkonzept Umstieg 21.