rail blog 300 / Joachim Holstein

Europameisterschaft mit Hindernissen

Im rail blog 298 stimmte ich auf die Fußball-EM ein, und nach einer Woche ist es Zeit für ein Zwischenfazit.

Groß durch die Medien gingen drei Zwischenfälle: An der Grenze gestrandete Österreicher, weil die Strecke wegen Bauarbeiten gesperrt war; Chaos nach Spielschluss in Gelsenkirchen; WM-Botschafter Philipp Lahm verpasst den Anpfiff, weil sein Zug Verspätung hat.

Also hätte man doch lieber das Auto …?

Lieber nicht. Schauen wir uns das mal genauer an:

Über das »EM-Chaos« in Passau heißt es im Video-Teaser: »15.000 EM-Fans stranden in Passau«. In der Überschrift und im Text des Artikels wird die Horrorzahl dann zurechtgerückt: »Hunderte EM-Fans« mussten eine Zwangspause einlegen. Offenbar hatte man aus »zum Spiel in Düsseldorf werden 15.000 Fans aus Österreich erwartet« und »österreichische Fans in Passau gestrandet« einen gedanklichen Kurzschluss gezogen. Der Münchner Merkur wies in einer Fußnote auf die Korrektur der falschen Zahl hin – immerhin!

https://www.merkur.de/deutschland/hunderte-fans-sitzen-in-passau-fest-oesterreicher-toben-ueber-deutsche-bahn-em-chaos-93134199.html

Was war los? Bauarbeiten auf der Strecke zwischen Passau und Regensburg sollten pünktlich vor Tagesanbruch beendet werden, aber leider ging in der letzten Nacht eine Baumaschine kaputt.

Kann passieren. Aber wenn man seine Bauarbeiten so knapp vor die EM legt, sollte man einen Plan B haben. Und der hätte gelautet: sofortige Umleitung der Fahrgastmassen via Salzburg und jede Menge Busse für den Schienenersatzverkehr.

Die Realität konnte man in den einschlägigen Medien live verfolgen:

Hey @DB_Bahn, in Passau stehen mehrere Hundert Österreicherinnen und Österreicher, die auf den Schienenersatzverkehr für den ICE 94 warten. Vergeblich. Es gibt auch keine Infos. Wann darf man denn hier die Weiterreise erwarten?

Antwort der DB:

Hallo, mir liegen leider keine Informationen über einen SEV vor.

Eine Stunde später vermeldet ein Journalist:

Chaos in #Passau: Rund 1000 Menschen, vielen in Österreich- und Slowakei-Dressen sind hier gestrandet. Wegen einer Baustelle sollte es Schienenersatzverkehr geben. Aber es kommen keine Busse. Ob wir rechtzeitig nach Düsseldorf kommen?

Antwort: Nein, die Fans verpassen drei Viertel des Spiels.

Der Grund: Drei Stunden warten auf einen Bus in Passau und ein Zugausfall in Würzburg. In Köln waren dann auch noch Menschen auf den Gleisen, weswegen der Zug eine Umleitung nach Düsseldorf fahren musste. „Alle Fans und Passagiere waren lange sehr geduldig, aber irgendwann kippte die Stimmung“, fasste der ernüchterte Fan seine Erfahrung mit der Deutschen Bahn zusammen. 

https://www.derwesten.de/region/duesseldorf-oesterreich-frankreich-deutsche-bahn-
chaos-id301010658.html

Tief im Westen, wo die Sonne verstaubt, ist es nicht immer besser, als man glaubt. Gegen 23 Uhr endete das Spiel zwischen England und Serbien, und nun wollten die Fans nach Hause, was für viele hieß: nach Köln, Düsseldorf oder Essen, weil man ja drei Vorrundenpartien in zwei bis drei verschiedenen Städten erreichen muss und auf eine verkehrsgünstig gelegene Großstadt als Quartiersort angewiesen ist.

Nun hatte man in Gelsenkirchen beim Standort der Arena Prioritäten gesetzt. 800 Meter bis zur Autobahn, aber 6 km vom Hauptbahnhof entfernt. Dazwischen: eine Tramlinie. Offenbar hatte man nicht genügend Garnituren aufgetrieben – Fans berichteten, dass sie bis zu 50 Minuten hätten warten müssen, ehe sie vom Stadion abfahren konnten.

Und dann warteten sie am Gelsenkirchener Hauptbahnhof auf – verspätete – Züge der DB. Zu lesen war auch das Eingeständnis der DB, dass man falsch eingeschätzt habe, welche Wege die Fans nehmen würden, nämlich dass sie nicht etappenweise fahren wollten nach dem Motto »Ach, wir nehmen mal auf Verdacht irgendeinen Zug, der nach Essen fährt, von da werden wir schon irgendwie nach Düsseldorf oder Köln weiterkommen«, sondern dass sie die für die DB anscheinend unvorstellbare Erwartung hegten, in Gelsenkirchen Hbf stünden Sonderzüge in die umliegenden Großstädte bereit, vielleicht auch nach Norden Richtung Münster.

Drei Stunden nach Abpfiff filmte einer die Bahnsteige voller Fans, die versuchten, Gelsenkirchen zu verlassen. „Aber Züge tauchen entweder nicht auf oder sind verspätet“, stellt ein Brite fest und stellt vergleichsweise diplomatisch fest: „Das ist wirklich nicht großartig.“

Der nächste nimmt kein Blatt vor den Mund, nachdem er vier Stunden nach Abpfiff noch immer nicht zurück im Hotel war: „Fucking shitshow!! Fuck German Efficiency!“ 

https://www.derwesten.de/staedte/gelsenkirchen/deutsche-bahn-gelsenkirchen-england-
serbien-fussball-id301008567.html

Nun weiß ich nicht, was die Briten gesagt hätten, wenn 50.000 Menschen in 20.000 bis 50.000 Autos angereist wären und nach Spielschluss auf freie Straßen hätten warten müssen. Teil des Problems sind auch die sehr späten Anstoßzeiten des dritten Tagesspiels um 21 Uhr. Zum Vergleich: Bei der WM 1974 begann kein Spiel später als um 19:30 Uhr, und auch bei der EM 1988 war man mit 20:15 Uhr noch besser dran.

Vor rund 45 Jahren war ich häufig im Stuttgarter Neckarstadion, und die Abreise mit Tram vom Stadionvorplatz oder zu Fuß bis zum Bahnhof Bad Cannstatt und dann per S-Bahn klappte immer prima. Auch bei den anderen Städten, in denen ich damals Bundesliga- oder Europacupspiele besuchte, kann ich mich an kein solches Chaos erinnern. Ob das vielleicht auch daran lag, dass die DB damals die Deutsche Bundesbahn war?

Über Joachim Holstein

(*1960) arbeitete von 1996 bis 2017 als Steward in Nacht- und Autozügen der DB, war von 2006 bis zur Einstellung dieser Verkehre Betriebsrat der DB European Railservice GmbH und zuletzt Sprecher des Wirtschaftsausschusses. Mitbegründer der Initiative zur Rettung des Nachtzuges Hamburg-Paris (2008; »Wir wollen nach Paris und nicht an die Börse«) und des europäischen Netzwerks für Nachtzüge »Back on Track« (2015; https://back-on-track.eu/de/); Weiteres unter www.nachtzug-bleibt.eu

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