rail blog 62 / Heiner Monheim

Verkehrspolitik mit der Schere

26. April 2023

Die Variante 1: Straßeneröffnungen, bei denen mit der Schere Bänder durchschnitten werden

Der aktuelle Streit über die Prioritäten zwischen Fernstraßenbau und Schienennetzbau zwischen den Grünen um Robert Habeck und der FDP um Verkehrsminister Volker Wissing, was denn besonders beschleunigt umgesetzt werden müsse, hat eine lange Vorgeschichte. Zu Gunsten der Straße. Seit nunmehr 70 Jahren sonnen sich die führenden Mandatsinhaber des Bundes-Verkehrssektors mit ihren Eröffnungsritualen neuer Bauabschnitte von Autobahnen und Bundesfernstraßen oder neuer Ortsumgehungen. Die von einer Gruppe meist männlicher Potentaten genutzte Schere hat dabei einen hohen Symbolwert.

Die Variante 2: Die sich öffnende Schere als Symbol für eine schlimme Diskrepanz

Die sich öffnende oder auseinanderklaffende Schere dient aber auch als sprachliches bzw. bildliches Symbol für eine schlimme Diskrepanz des Auseinanderdriftens von zwei gegenläufigen Entwicklungen. Schon im Übergang von der Großen Koalition unter Kanzler Kurt-Georg Kiesinger (1966 bis 1969) zur sozialliberalen Koalition unter Kanzler Willy Brandt (1969-1974) begann die verheerende Ungleichbehandlung von Bahnnetz und Straßennetz. Die Schere öffnete sich massiv zu Gunsten der Straßen, die Bundesmittel für die Bahn wurden in Relation dazu drastisch zusammengestrichen. Das ging auf der Landesebene weiter, auch hier wurden viel mehr Landesmittel in den Straßennetzausbau gepumpt, während der kleine Rest von Landesbahnen immer mehr zusammengespart und -gestrichen wurde. Parallel dazu investierten auch die Kreise und Gemeinden massiv in den Ausbau ihrer Straßennetze und bei den Gemeinden auch des kommunalen Parkraums. Während sie den ÖPNV- und SPNV-Ausbau (z.B. ihrer „Kreisbahnen“) sträflich vernachlässigten. Deutschland wollte Autoland werde und dafür war nichts zu teuer.

Variante 3: Die Schere als Symbol für Streich- und Stilllegungsritual

Die destruktive Stilllegungsschere wurde immer radikaler an die weit verzweigten Bestandsnetze der Bundesbahn, der Landesbahnen, der Kreisbahnen und der kommunalen Straßenbahnen gelegt. Der Schienenverkehr wurde immer mehr als ungeliebtes, teures Stiefkind diskreditiert, das sich mit seinen Netzen betriebswirtschaftlich nicht mehr rechnen würde. Der später aus anderen Gründen politisch in Ungnade gefallene Thilo Sarrazin hatte am verkehrswirtschaftlichen Institut von Prof. F. Voigt in Bonn die theoretischen Grundlagen für den Kurswechsel zur Schrumpfbahn und zu den Serien von Stilllegungsorgien gelegt. Einerseits sollte bei den Bundesfernstraßen ein maximaler Netzausbau bis in den letzten Winkel mit einer beängstigenden Perfektion forciert werden („Leber Plan“). Aber die dringliche Gestaltungsaufgabe einer dezentralen Bahnentwicklung wurde vollständig pervertiert. Statt Ausbau folgten viele Wellen von Stilllegungen. Der Rückzug der Bahn aus der Fläche wurde ideologisch begründet mit Kostenargumenten und politisch-administrativ konsequent umgesetzt. So öffnete sich die Schere einer fatalen Verkehrsentwicklung.  

Variante 4: Die Schere im Kopf

Die Schere im Kopf ist das Symbol für politische und administrative Denkverbote bzw. für Tabus. Sie ist maßgeblich für das Verfehlen aller Verkehrswende- und Klimaschutzziele. Ihre Kernrituale leuten: Ohne Auto geht es nicht, eine Verringerung der privaten und betrieblichen Motorisierung ist undenkbar und wäre in einem Autoland politischer Selbstmord. Als Beleg dafür gilt regelmäßig der ländliche Raum. Dort sei attraktiver öffentlicher Verkehr und wirtschaftlicher Bahnverkehr unmöglich. Schließlich habe man ja nicht ohne Grund dort die meisten Bahnstrecken stillgelegt und begrenze dern ÖPNV auf eine Restangebot für den Schülerverkehr.

Nur ein kleines Korridornetz von Hochgeschwindigkeitsstrecken könne sich Deutschland leisten und dafür brauche man maximale Budgets. Deswegen sei die massive Stilllegung von Personen- und Güterbahnstrecken, Anschlussgleisen, Bahnhöfen und Weichen ein Gebot sparsamer Mittelverwendung. Auf der anderen Seite stellten Bund und Länder aber gewaltige Budgets bereit für den Straßennetzausbau und leisten sich eine eigene Planungsmaschinerie, die immer neue Straßenprojekte erfindet.

Fazit: Die Logik umdrehen, eine neue Scherenstrategie für eine Renaissance der Schiene

Im Zeich von Klimakrise und Verkehrswende kann die Lösung nur in einer Transformation der Scherenpraxis liegen: Massenhafte Stilllegung von Fernstraßen, Umwidmung der entsprechenden Planungs- und Verwaltungsstrukturen auf Aufgaben der Verkehrwende, Konzentration der Bundes-, Landes-, Kreis- und Kommunalinvestitionen auf Abbau der Netzlücken und Kapazitätsengpässe im Schiennennetz. Beschleunigung der entsprechenden Projekte, vor allem auch der Kleinen sowie Beseitigung von Langsamfahrstellen, Wiedereinbau von Weichen und Überholgleisen, zweigleisiger Ausbau eingleisiger Strecken, durchgehende Netzelektrifizierung.

Über Prof. Dr. Heiner Monheim

(*1946), Geograf, Verkehrs- und Stadtplaner, seit den 1960er Jahren befasst mit den Themen Flächenbahn, Schienenreaktivierungen, Erhalt des IR, S-Bahnausbau und kleine S-Bahnsysteme, Stadt- Umland-Bahnen, neue Haltepunkte, Güter-Regionalbahnen, Bahnreform 2.0, Kritik der Großprojekte der Hochgeschwindigkeit und Bahnhofsspekulation. Details: www.heinermonheim.de

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