rail blog 82 / Joachim Holstein

Darf ein Nachtzug schon um 14 Uhr abfahren?

In meinem letzten Blogbeitrag ging es unter anderem um die Idee, Nachtzüge mit Klappsitzen auszustatten, damit man die Waggons auch im Tagesverkehr einsetzen könne. Dagegen sprechen aber nicht nur Komfortansprüche, sondern auch betriebliche Gründe. Denn solche Tageseinsätze müssten ja derart konzipiert werden, dass die Wagen rechtzeitig für die nächste Nachtfahrt wieder sauber, mit bezogenen Betten, vollen Kühlschränken, gefüllten Frischwassertanks und leeren Abwasserbehältern am passenden Ort bereitstehen. Solche Wagen kann man nicht einfach als Ersatz für Eurocity- oder Intercity-Wagen auf deren üblichen Umläufen einsetzen, die sich teilweise über mehrere Tage erstrecken.

Etwas anderes kommt eher in Betracht: nämlich dass ein Nachtzug nicht nur von etwa 22 Uhr bis 8 Uhr unterwegs ist, sondern schon um 19, 18 oder gar 16 Uhr abfährt und/oder erst um 10, 11 oder 12 Uhr ankommt. In anderen Ländern ist das durchaus üblich: der Nachtzug von Stockholm kommt um 13:39 Uhr in der norwegischen Hafenstadt Narvik an und fährt bereits um 15:11 wieder ab. Der Nachtzug von Siracusa nach Mailand fährt auf Sizilien um 13:35 Uhr ab und erreicht Mailand um 11:27 Uhr; der Gegenzug fährt um 20:10 ab und erreicht Siracusa um 15:48 Uhr. Der frühere DB-Nachtzug von Kopenhagen nach Basel war von ungefähr 19 Uhr bis etwa 12 Uhr unterwegs – hier merkte man aber, dass viele Reisende bereits in Frankfurt ausstiegen, um mit schnelleren ICEs in die Schweiz oder weiter nach Italien zu fahren. Umgekehrt zeigt die aktuelle Fahrplanauskunft für Berlin/Hamburg-Stockholm auch Verbindungen an, bei denen man in Malmö aussteigen und dann mit dem Hochgeschwindigkeitszug anderthalb Stunden früher ankommen könnte als mit dem Snälltåget. Ähnlich war es beim früheren DB-Nachtzug von Berlin und Hamburg nach Paris, der um 6:09 Uhr in Brüssel, aber erst um 9:14 Uhr in Paris ankam, während ein Thalys dieses letzte Teilstück in gerade mal 82 Minuten zurücklegt.

Die entscheidende Überlegung hierbei war und ist immer: Welche Metropolen und Regionen sollen zu vernünftigen Uhrzeiten miteinander verbunden werden, und gibt es weitere Ziele, die im Vor- oder Nachlauf angebunden werden können, selbst wenn das eine Parallelfahrt zu einem Tageszug bedeutet? Aus Sicht der Reisenden ist oftmals der größere Komfort durch die längere Nachtruhe wichtiger als das Einsparen einiger Minuten. Daher fuhren Nachtzüge schon zu DB-Zeiten oft über München hinaus bis nach Innsbruck, daher haben die ÖBB den Nightjet Berlin-Wien bis nach Graz verlängert, und daher gibt es sogar wieder neue Kurswagenverbindungen, indem am Nachtzug Stuttgart-Zagreb ein Wagen nach Rijeka hängt, der ab Ljubljana mit einem slowenisch-kroatischen Tageszug weiterbefördert wird.

Das sind Angebote, die an die örtlichen Gegebenheiten, an den Bedarf und die – oftmals saisonale – Nachfrage angepasst sind und viel rationeller sind als eine flächendeckende Einführung von »eierlegenden Wollmilchsäuen auf Rädern«, die nach Belieben sowohl als komplette Nachtzüge als auch als komplette Tageszüge einsetzbar wären.

Aus technischer Sicht wäre wichtig, dass Nachtzugwagen die Zulassung für Hochgeschwindigkeitsstrecken erhalten, damit man auch mal über Paris hinaus bis nach Bordeaux oder über Barcelona hinaus bis nach Valencia oder Madrid fahren kann.

Über Joachim Holstein

(*1960) arbeitete von 1996 bis 2017 als Steward in Nacht- und Autozügen der DB, war von 2006 bis zur Einstellung dieser Verkehre Betriebsrat der DB European Railservice GmbH und zuletzt Sprecher des Wirtschaftsausschusses. Mitbegründer der Initiative zur Rettung des Nachtzuges Hamburg-Paris (2008; »Wir wollen nach Paris und nicht an die Börse«) und des europäischen Netzwerks für Nachtzüge »Back on Track« (2015; https://back-on-track.eu/de/); Weiteres unter www.nachtzug-bleibt.eu

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