rail blog 84 / Heiner Monheim

Renaissance der Straßenbahn

VORBEMERKUNG – GROSSE NETZE- KLEINE NETZE

Bürgerbahn befasst sich überwiegend mit den „großen Netzen“ des Schienenpersonenfern- und Nahverkehrs und der Güterbahn. Also Systemen, die nach der EBO (Eisenbahnbau- und Betriebsordnung) konzipiert werden. Und deren Netzlängen in Tausenden km (Gesamtlänge DB-Netz ca. 34.000 km) gemessen werden. Das Thema Straßenbahnen, die nach der BOStrab (Bau- und Betriebsordnung für Straßenbahnen) gebaut und betrieben  werden, spielte bislang in den Aktivitäten von Bürgerbahn keine große Rolle. Die Gesamtnetzlänge aller 56 deutscher Straßenbahnsysteme umfasst ja auch nur ca. 2.800 km. Deswegen „kleine Netze“. Aber verkehrspolitisch sind diese Netze trotzdem von hoher Relevanz, weil sie im lokalen Verkehrsmarkt der Straßenbahnstädte eine herausragende Rolle spielen. Und man kann auch für die Weiterentwicklung der großen Netze eine Menge von den Straßenbahnen und ihrer BOStrab lernen. Z.B. was die Fahrzeugkonzepte angeht. Die ganze neue Generation der Regionaltriebwagen im RB-Verkehr wurde maßgeblich vom Vorbild der Straßenbahnen geprägt, was ich in meinem letzten Bahn-Blog 79 zum Schienenbus 2.0 deutlich angesprochen habe. Und wie man Investitions- und Betriebskosten durch flexible und nicht zu hohe Standards für Fahrwege und Haltestellen spart, kann man auch von der BOStrab lernen und die EBO entsprechend modernisieren durch eine „Kreuzung“ beider Regelungssysteme.

Wichtig ist, dass in der Mobilität der Deutschen die kurzen Entfernungen unter 5 km schon die Hälfte aller Autofahrten ausmachen. Deswegen sind für die Verkehrswende und Klimapolitik nicht nur die großen Bahnnetze, sondern viel mehr die kleinen lokalen Netze („klein“ im Sinne des begrenzten Aktionsradius der Systeme und der begrenzten Größe und Geschwindigkeit der Fahrzeuge und der geringen Größe der entsprechenden Netze) entscheidend. Mit Hilfe der kleinen Netze und Systeme muss ein Großteil des Ersatzes von bisherigem Autoverkehr geleistet werden. Ein früher wichtiges Element in diesen „kleinen Netzen“ war die „gute alte“ Straßenbahn oder Tram, die  seit ca. 1880 bis 1960 die Verkehrsentwicklung vieler deutscher Städte geprägt hat. Und die dringend eine Renaissance verdient hat.

KARDINALFEHLER DER VIELEN TRAMSTIlLLEGUNGEN

Neben den vielen Stilllegungen von ländlichen und suburbanen Eisenbahnstrecken (das EBO-Netz wurde durch Stilllegungen halbiert), gab es seit den 1950er Jahren leider auch viele Stilllegungen von Straßenbahnstrecken und Netzen. Die Straßenbahnen sollten Platz machen für den schnell wachsenden Autoverkehr. Sie galten als veraltet und im Vergleich zum Busverkehr als zu wenig flexibel und zu teuer. In vielen Rationalisierungsgutachten der 1960er Jahre wurde den Straßenbahnstädten und ihren Verkehrsunternehmen von Ökonomen empfohlen, gemäß dem US-amerikanischen Vorbild ihr Angebot komplett auf Busse umzustellen. Leider sind viele Städte und Verkehrsbetriebe dieser Empfehlung gefolgt, darunter keineswegs nur Klein- und Mittelstädte, sondern auch große Metropolen wie Westberlin oder Hamburg und auch Großstädte wie Aachen, Osnabrück, Oldenburg, Bremerhaven,  Saarbrücken…..

In der damaligen DDR haben im Vergleich zur BRD relativ mehr Straßenbahnsysteme überlebt, hier auch in einigen Klein- und Mittelstädten. Dort hatte der Schienenverkehr generell und auch der Straßenbahnverkehr eine höhere politische Priorität und die Massenmotorisierung erfolgte später, zögerlicher und weniger radikal.

Aus heutiger Sicht haben sich nahezu alle Stilllegungen als großer Fehler erwiesen. Fast immer sind danach die Fahrgastzahlen im öffentlichen Verkehr stark eingebrochen. Und die Staus haben massiv zugenommen. Weil Busse nie eine vergleichbare Leistungsfähigkeit und Attraktivität wie Straßenbahnen erreichen konnten. Städte, die ihre Straßenbahnsysteme erhalten und weiter ausgebaut haben, wie Freiburg oder Karlsruhe, haben heute besonders hohe Modal-Split Anteile im ÖPNV. Und auch Städte wie z.B. Saarbrücken haben aus den Fehlern gelernt und kurz nach der Stilllegung wieder ein neues Stadtbahnsystem eingeführt.  Viele von ihnen warten aber noch auf den dringend nötigen Reaktivierungsboom, wie z.B. Kiel oder Aachen. In beiden Städten sind frühere Reaktivierungsversuche gescheitert, weil die Planer es nicht geschafft haben, die Vorteile des Schienenverkehrs angemessen darzustellen und auch keine überzeugende Gestaltungsdetails  der neuen Trassen präsentiert haben.

FRANKREICH ZEIGT POTENZIALE NEUER STRASSENBAHNSYSTEME

Ganz anders ist die Dynamik im Nachbarland Frankreich. Dort haben über 30 Städte – ausgehend von den Vorreitern Grenoble und Straßburg – neue Straßenbahnsysteme eingeführt, die weltweit als Vorbilder für integrierte Verkehrsplanung gelten. Wenn deutsche Städte diesen Vorbildern folgen würden, gäbe es im Rahmen einer Renaissancestrategie überall bessere Verkehrswendechancen. Die Planer müssen die spezifischen Vorteile von Straßenbahnen offensiv nutzen und die Trassen und Haltestellen kreativ und sensibel planen, nicht nur als reine Ingenieursbauwerke, sondern als Rückeroberung qualitätsvoller öffentlicher Räume. Die typischen Elemente sind dann das Rasengleis, die Tramallee und die Kombination mit Verkehrsberuhigungsmaßnahmen auf bislang nur autogerecht gestalteten Hauptverkehrsstraßen. Die Franzosen setzen dabei eine neue Generation von attraktiv gestalteten Niederflurfahrzeugen ein, die mit hohem Glasanteil an der Karosserie elegant gestaltet sind. Mit großer Laufruhe, minimal invasiv und mit dekorativ gestalteten Oberleitungen, Masten und Haltestellen. Die Niederflurstraßenbahnen erlauben eine besonders gute städtebauliche Integration der Fahrwege und Haltestellen. Oft werden in den Innenstädten die Straßenbahnen in Fußgängerbereiche und verkehrsberuhigte Hauptverkehrsstraßen integriert. In Frankreich werden die Straßenbahnen auch als probates Mittel der Stadtentwicklung, Stadterneuerung und Verkehrswende genutzt.  Auch die Schweiz ist nicht nur unser gern zitiertes Vorbild für ein exzellentes Bahnsystem, sondern dort  wurden in Basel, Bern und Zürich auch die Straßenbahnsysteme gepflegt und weiter ausgebaut.  Europameister in Sachen Straßenbahnentwicklung von Metropolen ist immer noch Wien, das  mit seinem System auf 600 Fahrten je Kopf und Jahr kommt. Es wird Zeit, dass sich Hamburg und Berlin von solchen Beispielen inspirieren lassen.

MODERNE ELEKTROMOBILITÄT IM  STADTVERKEHR

Straßenbahnen sind der wichtigste und leistungsfähigste Teil moderner Elektromobilität. Sie sind technisch ausgereift und erfreuen sich in bestehenden Netzen einer hohen Akzeptanz im Verkehrsmarkt. Straßenbahnen müssen daher künftig auch in Deutschland die Nr. 1 im Rahmen der E- Mobilität spielen, allein schon aus Klima-, Umwelt- und Energiegründen.  Der Neu- und Ausbau kommunaler Straßenbahnnetze muss wieder zur Pflichtaufgabe moderner kommunaler Verkehrsentwicklungs- und Nahverkehrsplanung werden.  Dabei muss man nicht bei 0 anfangen. Denn immer noch gibt es in Deutschland 56 Straßenbahnnetze. 

Insofern ist Deutschland immer noch das europäische Land mit den meisten Straßenbahnsystemen. Aber bislang fehlt eine mit Frankreich vergleichbare Dynamik und Planungs- und Kommunikationskultur.

Maßgeblich beteiligt an der Stagnation der Straßenbahnentwicklung in Deutschland war die von Bund und Ländern als Fördermittelgeber forcierte Stadtbahnphilosophie, die eine gewisse Ähnlichkeit zur Hochgeschwindigkeitsphilosophie im Eisenbahnbereich hat. Stadtbahnen sollten deutlich größer und schneller sein als vorherige Straßenbahnen und sie sollten überwiegend hochflurig mit Hochbahnsteigen ausgestattet werden. Die Fahrwege sollten wegen der hohen Geschwindigkeiten überwiegend vom sonstigen Verkehr abgeschirmt verlaufen, hinter Leitplanken oder Zäunen. Und in den Innenstädten und Ortskernen sollten sie in Tunnelstrecken „abtauchen“. Das ist das krasse Gegenteil der französischen Vorbildes. Dort ist Tram fast immer niederflurig, die Bahnsteige der Haltestellen in die Umgebung integriert, Die Bahnen durchfahren auch Fußgängerbereiche und verkehrsberuhigte Bereiche. Die Fahrwege sind hochwertig gestaltet, entweder mit Rasengleis und Tramallee oder mit einem hochwertigen Sonderbelag wie in Fußgängerbereichen. Die Fahrwege sind nicht abgeschirmt, sondern bieten gute Querungschancen. Auch die Haltestellen sind sehr kreativ gestaltet, in Abstimmung zur Umgebung und oft integriert in die begleitenden Gehwege. Natürlich gibt es an vielen Haltestellen und vor allem an den Linienenden  Bike & Ride-Anlagen und multifunktionale Mobilpunkte mit Car-Sharing Angeboten. Tunnelprojekt sind die Ausnahme.

ANPASSUNG DER FÖRDERSYSTEME

Damit die Renaissance der Tram auch in Deutschland vorankommt, müssen Bund und Länder ihre Fördersysteme grundlegend verändern. Zunächst muss das Fördervolumen massiv aufgestockt werden, um mindestens 50 neue Straßenbahnsysteme in Deutschland und einen Netzausbau der 56 bestehenden Straßenbahnsysteme zu ermöglichen. Und dann müssen sie die Bewertungskriterien für förderwürdige Projekte grundlegend verändern.Die sog. STANDI (Standardisierte Bewertung von Kosten und Nutzen) ist völlig aus der Zeit gefallen. Sie versucht, mit völlig falschen Nutzenkriterien und antiquierten Kostensätzen die Zahl der in Fördernähe kommenden Projekte zu limitieren. Hauptnutzen ist gesparte Reisezeit, ein Kriterium aus der „Peter-Stuyvesant“ Zeit des höher, schneller, weiter. Die angeblich durch höhere Geschwindigkeit einsparbare Reisezeit war immer schon ein Mythos, wenn man all die angeblich gesparten Reisezeiten addierte, wären fast alle Deutschen schon am Ziel angekommen, bevor sie überhaupt losgefahren sind. Es ist eine Binsenweisheit, dass die höhere Geschwindigkeit mit ihren Rückkoppelungen zu weiteren Distanzen führt, was in der vordergründigen Ökonomensicht ein Vorteil ist. Ein Brötchen, das um die Ecke gekauft wird, ist danach viel weniger wert  als eines, das vorher 20 km befördert wurde. Das Gegenteil ist richtig, in der Stadt der kurzen Wege und der Ökonomie der kurzen Kreisläufe ist vorteilhaft, was Distanzen einspart, also zur Verkehrsvermeidung beiträgt. Und auf der Kostenseite sind die standardisierten Kostensätze alle am Maßstab maximaler Betonorgien orientiert, weil die Tunnelstrecke eben wertvoller ist als die oberirdische Alternative. Diese systemische Unsinn muss endlich gestoppt werden durch ein Fördersystem, das zu Wettbewerb um immer mehr Klimaschutz- und Verkehrswendeprojekten einlädt, statt sie durch hohe Hürden zu entmutigen.

Die Präferenz für möglichst teure Projekte (je tunneliger, desto besser, siehe S 21) muss endlich durch einen neuen Bescheidenheits- und Kreativitätsbonus bei den Konzepten und Planungen ersetzt werden. Deswegen eignen sich Straßenbahnprojekt besonders gut für eine Reform der Fördersysteme. Und deswegen braucht es aus dem Bundesverkehrsministerium keine Autobahnbeschleunigungsorgien,  sondern Verkehrswendewettbewerbe, bei denen das Konzept und die Maßnahme belohnt wird, die den größten Beitrag zu Entmotorisierung, also zur Minimierung des Autobestandes und der Autonutzung, leistet. Das Postulat separater Trassen in den Förderrichtlinien muss dringend zu Gunsten der Forderung nach optimaler städtebaulicher Integration und straßenräumlicher Anpassung gekippt werden.

Zukunftsstrategien für den Netzausbau

In fast allen deutschen noch bestehenden Straßenbahnstädten sind die Schienennetze  nicht in gleichem Maße gewachsen, wie die Siedlungen sich im Zuge der Suburbanisierung ins Umland ausgebreitet haben. Deswegen ist eine Verlängerung der Linien ins Umland notwendig. Der Einsatz von Wendefahrzeugen macht solche Verlängerungen einfacher, weil es nicht mehr nötig ist, platzaufwändige Wendeschleifen unterzubringen. Am Stadtrand und im Umland stehen zudem oft ausreichend breit dimensionierte Ausfallstraßen zur Verfügung, so dass der nötige Platz relativ leicht gewonnen werden kann. Schwierig wird es erst wieder, wenn solche Verlängerungen mitten in die historisch gewachsenen Ortskerne peripherer Siedlungsgebiete führen sollen. Dann stellt sich genau wie in den Innenstädten die Frage einer angemessenen städtebaulichen Integration und Kombination mit Verkehrsberuhigungsmaßnahmen.

Vielfach sind die historischen Schienennetze radial gewachsen. Mittlerweile haben sich aber die Verkehrsverflechtungen stark verändert, es gibt viel mehr tangentiale und ringförmige Verbindungen. Der Straßenbau hat dem immer sehr schnell Rechnung getragen durch seine diversen Straßenringe und Tangenten. Im ÖPNV und vor allem im Schienennetz dagegen fehlen vielfach solche Querverbindungen, was die Fahrgäste zu extremen Umwegen zwingt und daher zu geringeren ÖPNV-Anteilen führt. Daher werden in letzter Zeit in diversen Städten neue tangentiale und ringförmige Verbindungen geplant. Vorbild diesbezüglich ist München, das gleich mehrere Projekte mit dieser Aufgabe realisiert hat und weiter plant.

Nach dem Vorbild des Karlsruher Modells haben mehrere Städte versucht, ihre Netze zu erweitern, indem sie stillgelegte oder nur gering genutzte Trassen der Eisenbahnen mit in das Netz einbeziehen und dafür evtl. spezielle Fahrzeugkonzepte mit Mehrsystemcharakter entwickeln. In Karlsruhe konnten so Bad Herrenalb, Bretten, Baden-Baden und Heilbronn angebunden werden. Folgebeispiele sind Saarbrücken, Kassel, Chemnitz und Zwickau. Solche Zweisystembahnen eigenen sich hervorragend dafür, mit relativ geringem Bauaufwand unter Nutzung alter Trassen das Umland für die Schiene zu erschließen.  Natürlich ist dabei der Zweisystemansatz nicht zwingend, wenn es gelingt, die Umlandstrecken im gleichen Traktionssystem zu entwickeln, also vor allem im Kommunalstrom zu betreiben.

Über Prof. Dr. Heiner Monheim

(*1946), Geograf, Verkehrs- und Stadtplaner, seit den 1960er Jahren befasst mit den Themen Flächenbahn, Schienenreaktivierungen, Erhalt des IR, S-Bahnausbau und kleine S-Bahnsysteme, Stadt- Umland-Bahnen, neue Haltepunkte, Güter-Regionalbahnen, Bahnreform 2.0, Kritik der Großprojekte der Hochgeschwindigkeit und Bahnhofsspekulation. Details: www.heinermonheim.de

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