rail blog 90 / Joachim Holstein

Nachtzüge mit Extras – 2

Um die Jahrtausendwende war ich dienstlich so häufig in der Schweiz, dass ich mir mehrmals ein Halbtax-Abo (plus Tageskarte Schweiz für 57 Franken) oder ein Interrail-Monatsticket für die Schweiz geleistet habe, um in den elf bis dreizehn Stunden der Ruhezeit von Lörrach/Basel, Zürich, Brig oder Chur aus die Gegend abzuklappern: Nur kurz im Hotel duschen und dann rauf auf die Schweizer Schiene. Dank Pünktlichkeit und Taktfahrplan konnte ich hin und zurück oder auch kreuz und quer schöne Strecken zurücklegen – mit Umsteigezeiten, die ich in Deutschland auch damals schon kaum riskiert hätte. Mal eben von Basel nach Genf, See angucken und wieder zurück. Oder von Zürich aus nach Chiasso und wieder zurück: Da gab es nicht nur einen See anzuschauen (und das passende Bahnhofsschild »Paradiso«), sondern auch eine Kirche in drei verschiedenen Höhenlagen (https://de.wikipedia.org/wiki/Kirche_Wassen) und diverse Kehrtunnel (https://de.wikipedia.org/wiki/Kehrtunnel#Gotthardbahn).

Oder: von Zürich über Arth-Goldau, Pfäffikon, St. Gallen und Romanshorn am Bodensee wieder zurück nach Zürich; von Chur aus über Albula und Bernina bis Poschiavo, von Chur aus mit der Schmalspurbahn nach Arosa und mit der Seilbahn auf das Weisshorn, von Brig aus auf den Gornergrat zum Rodeln. Dank Halbtax-Abo kosteten ja auch die Zahnrad-, Berg- und Seilbahnen nur die Hälfte.

Immer wieder faszinierend war die Kundenorientierung der Bahnbeschäftigten.

Als ich im Winter in Chur eine Fahrkarte nach Preda kaufen wollte, antwortete der Graubündner hinter dem Schalter mit einer Frage, die ich erst beim dritten oder vierten Mal verstand: ob ich schlitteln wolle. Ja, ich wollte rodeln. Darauf bot er an, mir den Gutschein für den Schlitten und die mehrmalige Benutzung der Albulabahn zum Wiederhochbringen gleich mit zu verkaufen, auch die Kaution von 50 Franken für den Schlitten könne ich bei ihm bezahlen, die bekäme ich bei Rückgabe des Schlittens in einem bestimmten Sportgeschäft in Bergün wieder. Ich war begeistert, und als i-Tüpfelchen konnte ich die Kaution in Chur sogar in DM bezahlen.

Das Rodeln auf der Albulapassstraße, die immer wieder die Bahnstrecke unterquert, und das Rodeln am Gornergrat von 2.815 auf 2.582 Metern Höhe mit Matterhorn-Panorama waren phantastisch und hätten gerne ewig dauern können. Als Nebenfach-Anglist kannte ich natürlich Henry Charles Beeching und sein Gedicht über eine Schussfahrt auf dem Rad, daher überlasse ich ihm die Gefühlsbeschreibung:

Swifter and yet more swift,
Till the heart with a mighty lift
Makes the lungs laugh, the throat cry: –
»O bird, see; see, bird, I fly.

Is this, is this your joy?
O bird, then I, though a boy,
For a golden moment share
Your feathery life in air!«

https://poets.org/poem/going-down-hill-bicycle

Über Joachim Holstein

(*1960) arbeitete von 1996 bis 2017 als Steward in Nacht- und Autozügen der DB, war von 2006 bis zur Einstellung dieser Verkehre Betriebsrat der DB European Railservice GmbH und zuletzt Sprecher des Wirtschaftsausschusses. Mitbegründer der Initiative zur Rettung des Nachtzuges Hamburg-Paris (2008; »Wir wollen nach Paris und nicht an die Börse«) und des europäischen Netzwerks für Nachtzüge »Back on Track« (2015; https://back-on-track.eu/de/); Weiteres unter www.nachtzug-bleibt.eu

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