„Es gibt nicht ‚die Bahn‘. Es gibt ein buntes System Schiene“
Gespräch von Ralf Wurzbacher mit Winfried Wolf
zuerst erschienen in telepolis am 19.4.23
Am Freitag sollen erneut die Räder stillstehen. Beschäftigte wehren sich gegen Reallohnverlust. Derweil haben die Unionsparteien eigene Ideen. Ein Gespräch mit Winfried Wolf.
Bahn-Experte Winfried Wolf arbeitet als Autor und Journalist und ist Sprecher der Initiative „Bürgerbahn – Denkfabrik für eine starke Schiene“
Vor dem Hintergrund der festgefahrenen Bahn-Tarifrunde ruft die Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) für kommenden Freitag zu einem mehrstündigen Warnstreik auf. Das wäre der zweite größere Ausstand nach dem von Ende März, als die EVG gemeinsam mit der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di den Bus-, Bahn- und Flugverkehr in ganz Deutschland lahmlegte. Wie schätzen Sie die Chancen auf eine baldige Einigung ein?
Winfried Wolf: Es kommt sicher zu einer Einigung. In aller Regel begünstigen Streiks das Entstehen einer Einigung. Wir leben in einem streikarmen Land. Da tut Normalität gut. Auch wenn das krass unterschiedliche Verhalten des Bahn-Vorstands schon irritiert: Bei den GDL-Streiks der Lokführer ging die DB juristisch gegen die Streikankündigung vor und tat dann alles, die Wirksamkeit der Streiks durch Notdienste und andere Maßnahmen zu reduzieren.
Die Medien hetzten gegen die GDL. Jetzt wird der EVG-Streik vom Arbeitgeber und in den Medien bereits vorab als Tatsache hingenommen. Gut so, kann man da sagen, wenn das vom Arbeitgeber und den Medien allgemein – also auch bei zukünftigen Streiks – so gehandhabt wird.
Was bedeutete ein hoher Lohnabschluss, der ja neben der Deutschen Bahn AG noch rund 50 weitere Bus- und Bahnunternehmen beträfe: verhagelte Bilanzen oder Entspannung an der Beschäftigungsfront?
Winfried Wolf: Ein hoher Lohnabschluss wird auch anderswo Zeichen setzten. Er kann im Grunde ja nicht hoch genug sein – angesichts eines Reallohnabbaus, den es 2022 gab und den es auch in diesem Jahr geben wird, wenn der Abschluss nicht deutlich über der zu erwartenden Rate der Preissteigerung plus dem Reallohnabbau aus dem vorangegangen Jahr liegt.
Themawechsel: Die Unionsfraktionen im Bundestag plädieren für eine Zerschlagung der Deutschen Bahn durch Überführung der Sektoren Netz, Bahnhöfe und Energie in eine bundeseigene Infrastruktur-GmbH. Wie stehen Sie zu dem Vorstoß?
Winfried Wolf: Deutliche Ablehnung aus drei Gründen. Erstens, weil das tatsächlich eine Zerschlagung ist und insgesamt den fatalen Wettbewerb massiv steigern muss. Zweitens, weil es damit keinen gemeinsamen Arbeitsmarkt mehr gibt, womit Personalabbau hier durch Übernahme dort ausgeglichen werden kann. Drittens, weil mit Beibehaltung von Schenker die DB ein Konzern mit 65 Prozent Auslandsumsatz und 70 Prozent Nicht-Bahn-Geschäft sein würde.
Andererseits ähnelt das Konzept dem der Ampel-Bundesregierung, das ebenso eine Trennung von Netz und Betrieb vorsieht, wobei die Infrastruktursparten in eine „gemeinwohlorientierte“ Gesellschaft unter dem Konzerndach überführt werden sollen. Macht das so einen großen Unterschied?
Winfried Wolf: Die Beibehaltung des gemeinsamen Konzerndaches und die „Gemeinwohlorientierung“ sind wesentliche Unterschiede.
Und das ist der Grund dafür, dass Ihr Verband den Ansatz der Bundesregierung befürwortet?
Winfried Wolf: Wir befürworten nicht den Ampel-Vorschlag. Unter anderem, weil dort DB Energie in der neuen Infrastrukturgesellschaft fehlt und weil der Begriff „gemeinwohlorientiert“ dehnbar ist. Doch der Vorschlag kommt unter den gegebenen Kräfteverhältnissen unseren Vorstellungen am nächsten.
Der wesentliche Grund, der für eine unabhängige und gemeinnützige Infrastrukturgesellschaft spricht, ist die reale Situation: Im Schienenpersonennahverkehr und im Güterverkehr werden jeweils knapp 50 Prozent von Nicht-DB-Gesellschaften gefahren. Der Bahn-Konzern mit DB Netz und DB Station und Service als Infrastrukturmonopolisten sind Partei, sie schikanieren diese Nicht-DB-Gesellschaften, wo immer sie können. Das behindert und zerstört Schienenverkehr.
Sie selbst sprechen in diesem Zusammenhang von einer „Chance für einen Neunanfang. Mehr nicht, aber auch nicht weniger.“ Echte Überzeugung klingt anders.
Winfried Wolf: Richtig. Man ist geneigt zu sagen, dass man aktuell die Wahl zwischen mehreren Übeln hat. Als jemand, der seit 40 Jahren für ein integriertes System Schiene, wie in der Schweiz weitgehend existent, kämpft, finde ich das fatal.
Warum sollte es ein FDP-geführtes Bundesverkehrsministerium mit einer neoliberal eingefärbten Grünen-Partei im Rücken ernst mit „Gemeinwohlorientierung“ meinen?
Winfried Wolf: Gegenfrage: Warum sollten ein ultraliberal geführtes Ministerium, eine olivgrüne Partei und ein Banken- und Rüstungsfreund-Kanzler eine integrierte Bahn wollen?
Das Bündnis „Bahn für Alle“ und die EVG sprechen sich vehement gegen eine Konzernaufspaltung aus, weil sie fürchten, in der neuen Struktur werde der Wettbewerb auf der Schiene noch forciert, auch im Fernverkehr. Das wollen Sie doch auch nicht?
Winfried Wolf: Es gibt keine „integriertes System Schiene“ mehr. Die seit 1994 bestehende Struktur führte zur Desintegration des Systems Schiene. Auch der Konzern DB AG ist desintegriert. Mit diesem System wurde der Scheinwettbewerb, wurden die Privaten, von Jahr zu Jahr stärker. Die DB entwickelte sich so weg von der Schiene und hin zum Global Player mit Luftfracht, Schifffahrt und Lkw-Verkehr.
Könnte die Bahn nicht auch in der bestehenden Form flott gemacht werden?
Winfried Wolf: Nein. Es gibt nicht „die Bahn“. Es gibt ein buntes System Schiene, wie beschrieben. Selbst wenn wir morgen eine formal gemeinnützige DB AG hätten, dann besteht diese zu 50 Prozent aus Nicht-Bahn-Geschäften, aus Auslandstätigkeit. Dann existieren im Bereich Schiene die Hälfte der Verkehre im wichtigsten Bereich, im Schienennahverkehr, aus privaten und scheinprivaten Gesellschaften.
Aus dieser Situation heraus kommen wir nur auf einem Weg zu einem integrierten System Schiene, indem zunächst das wertvollste Gut, die Infrastruktur, herausgenommen und unter direkte öffentliche Kontrolle gestellt wird. Gerne zusammen mit einer DB als gemeinnütziger Gesellschaft. Wobei letzteres beim Blick auf die politischen Kräfteverhältnisse am wenigsten wahrscheinlich ist.
Woraus folgt?
Winfried Wolf: Fordert man nur dies, die Umwandlung des Monsters DB AG in ein gemeinnütziges Unternehmen, so bleibt man abstrakt. Man macht man sich die die nicht Hände schmutzig – und arbeitet faktisch dem DB-Konzern in die Hände, für den dann das „Weiter so“ gilt. Die einen, die dies fordern, sind naiv. Die anderen zynisch.
Ich darf daran erinnern, dass Transnet, Vorgänger von EVG, den Bahnbörsengang unterstützte und die EVG im Aufsichtsrat der DB alle bahnzerstörerischen Beschlüsse des DB-Vorstands, nicht zuletzt „Stuttgart 21“ und das Ende des Nachtzugverkehrs, mittrug und mitträgt. (Ralf Wurzbacher)