Verkehrswende geht anders

Klimabahn mit Perspektive statt Kurzzeit-Billig-Ticket

von Winfried Wolf

Das 9-Euro-Ticket sei »eine Rie­sen­chan­ce«; noch nie sei »Bahn­fah­ren so güns­tig« gewe­sen. Das Nah­ver­kehrs­ti­cket wer­de »ein ech­ter Knal­ler«; bereits sie­ben Mil­lio­nen sei­en in den ers­ten Wochen ver­kauft wer­den. So tön­ten Ver­kehrs­mi­nis­ter Vol­ker Wis­sing (FDP) und der Beauf­trag­te der Bun­des­re­gie­rung für den Schie­nen­ver­kehr, Micha­el Theu­rer (FDP).

Ange­sichts von Ukrai­ne-Krieg, Kli­ma­not­stand und der Not­wen­dig­keit eines Aus­stiegs aus den fos­si­len Ener­gie­trä­gern ist eine Offen­si­ve für den öffent­li­chen Ver­kehr im All­ge­mei­nen und für den Schie­nen­ver­kehr im Beson­de­ren über­fäl­lig. Doch das ist bereits alles, was es an Posi­ti­vem zum 9-Euro-Ticket zu sagen gibt. Die Kri­tik an der kon­kre­ten Form die­ser För­de­rung über­wiegt. Das wird mit Sicher­heit die Bilanz im Sep­tem­ber zei­gen, die Pro­ble­me sind aber auch schon zu Beginn der Maß­nah­me offen­sicht­lich. Der Rabatt wird die deso­la­te Infra­struk­tur der Bahn wei­ter belas­ten, er wird durch die Kraft­stoff-Rabat­te gera­de­zu kon­ter­ka­riert. Das Gan­ze ist, da ohne jeg­li­che Per­spek­ti­ve, schlicht ein teu­res Strohfeuer.

Seit 2003 gibt es beim Tarif­sys­tem der Bahn ein fata­les Split­ting: teu­re all­ge­mei­ne Tickets gepaart mit Bil­lig­an­ge­bo­ten. Die Stamm­kund­schaft wird davon eher abge­schreckt als ermu­tigt. Vor knapp zwei Jahr­zehn­ten wur­de vom dama­li­gen Bahn­chef Hart­mut Meh­dorn ein neu­es Bahn­preis­sys­tem eta­bliert. Zen­tra­ler Bestand­teil war die kom­plet­te Abschaf­fung der seit Anfang der 1990er Jah­re bewähr­ten Bahn­card und ihr behaup­te­ter Ersatz durch eine Bahncard25, die aber fak­tisch eine Rabatt­kar­te ist. Die klas­si­sche Bahn­card – nun­mehr als Bahncard50 bezeich­net – wur­de als Resul­tat mas­si­ver Pro­tes­te erst knapp ein Jahr spä­ter wie­der ein­ge­führt, aller­dings ver­bun­den mit der extre­men Ver­teue­rung von 140 Euro auf nun 200 Euro in der 2. Klas­se. Heu­te kos­tet die­se Bahncard50 bereits 234 Euro. Auf die­se Wei­se wur­de die Zahl der­je­ni­gen, die über eine Bahncard50 ver­fü­gen, von 3 Mil­lio­nen auf heu­te weni­ger als 1,4 Mil­lio­nen gut hal­biert. Die Prei­se für die nor­ma­len Tickets (heu­te als »Flex-Prei­se« bezeich­net) stie­gen seit 2003 um 38 Pro­zent im Fern­ver­kehr und sogar um 59 Pro­zent im Nah­ver­kehr – und damit rund dop­pelt so schnell wie die die Infla­ti­on. Die­se grund­sätz­lich hohen Bahn­prei­se wie­der­um sind gepaart mit ver­gleichs­wei­se bil­li­gen Ein­zel­ti­ckets, aller­dings immer mit Zug­bin­dung. Men­schen, die eine Bahncard50 oder gar eine Bahncard100 haben, kom­men sich regel­mä­ßig ver­al­bert vor, wenn sie mit die­sen Bil­lig­an­ge­bo­ten kon­fron­tiert wer­den. Und die­se gehö­ren wohl­ge­merkt zur Stamm­kund­schaft der Bahn.

Die­ser ver­que­ren Logik folgt nun auch das 9-Euro-Ticket. Die­ses gibt es gera­de mal ein Vier­tel­jahr lang. Danach kommt die Rück­kehr zum alten, wider­sprüch­li­chen Sys­tem. Es gibt sogar Gerüch­te, dass bis Ende 2022 die Prei­se im öffent­li­chen Ver­kehr deut­lich ange­ho­ben wer­den sol­len – auch um die Ver­lus­te aus der 9-Euro-Ticket-Zeit zu kompensieren.

Das 9-Euro-Ticket soll die öffent­li­che Hand ins­ge­samt gut drei Mil­li­ar­den Euro kos­ten. Der Bund zahlt aller­dings nur 2,5 Mil­li­ar­den an die Län­der, sodass die­se das Defi­zit von mehr als einer hal­ben Mil­li­ar­de irgend­wie aus­glei­chen müs­sen. Zum glei­chen Zeit­punkt und für den glei­chen Zeit­raum gibt es den »Tan­kra­batt«. Er wird den Bund gut drei Mil­li­ar­den Euro kos­ten. Ob es bei einem Geschenk für die Mine­ral­öl­kon­zer­ne bleibt, die zügig die Sprit­prei­se erhöht haben, oder ob der Rabatt zumin­dest teil­wei­se bei den Auto­fah­ren­den ankommt, ist noch nicht geklärt.

Es kris­tal­li­siert sich jedoch fol­gen­de Arbeits­tei­lung in der Ampel-Regie­rung her­aus: Die Grü­nen kön­nen ihrer Kli­en­tel sagen, man fah­re eine Offen­si­ve für den öffent­li­chen Nah­ver­kehr. Die FDP kann ihrer Kli­en­tel mit­tei­len, es gel­te wei­ter freie Auto-Fahrt für (von Kli­ma­ver­ant­wor­tung) freie Bür­ger. Die SPD ver­weist ihre Anhän­ger­schaft dar­auf, dass bereits im Febru­ar die Erhö­hung der Pend­ler­pau­scha­le vor­ge­zo­gen wur­de und damit höhe­re Sprit­prei­se teil­wei­se neu­tra­li­siert wur­den. Damit wird es selbst in dem kur­zen Zeit­raum, in dem das 9-Euro-Ticket gilt, wohl kei­ne Ver­la­ge­rung vom Auto­ver­kehr zur Schie­ne geben. Es soll sogar Pend­ler geben, die in der 9-Euro-Ticket-Zeit von der Schie­ne zum Auto wech­seln wol­len, um die vor­aus­sicht­lich bre­chend vol­len Zügen zu mei­den. Damit wird es auch kei­ner­lei Bei­trag zur Lin­de­rung des Kli­ma­not­stands geben.

Anfang Sep­tem­ber ver­schwin­det das 9-Euro-Ticket dann wie­der. Der Bahn­be­auf­trag­te Theu­rer scheint sei­ne Bilanz aus der Rabatt-Zeit bereits gezo­gen zu haben. Auf einer Pres­se­kon­fe­renz zum Beginn der Akti­on ließ er wis­sen, ein Aus­bau der Schie­ne und ein grö­ße­res Ange­bot im öffent­li­chen Ver­kehr sei­en nicht sinn­voll. Viel­mehr wäre es »öko­lo­gisch rich­tig, zu gucken, dass bestehen­de Züge bes­ser aus­ge­las­tet sind, ohne dass die Per­so­nal­kos­ten steigen.«

Dabei hapert es gera­de dar­an: Das Ange­bot im öffent­li­chen Ver­kehr und bei der Bahn ist unzu­rei­chend. Das Schie­nen­netz wur­de allein seit 1994 um ein Fünf­tel gekappt. Der Ser­vice ist man­gel­haft bis schlecht. Die Pünkt­lich­keits­quo­te liegt auf einem Rekord­tief von rund 70 Pro­zent. In jeder Woche fal­len rund 2000 Züge kom­plett aus, auch weil tau­sen­de Lok­füh­rer und Zug­be­glei­ter feh­len. Das Tarif­sys­tem ist sys­te­misch falsch, intrans­pa­rent und ein Fli­cken­tep­pich. Die »Wirt­schafts­wo­che« titel­te am 30. Mai: »Deut­sche Bahn in Jahr­hun­dert­kri­se – Bahn­chef Lutz sen­det SOS«. Ampel hör´die Signa­le – auf zum Klimagefecht!

Nichts der­glei­chen! Es fehlt der Regie­rung jeg­li­che Lang­zeit-Per­spek­ti­ve. Die­se könn­te im Fol­gen­den bestehen: Ein­füh­rung eines 365 Euro-Jah­res­ti­ckets für den Nah­ver­kehr im jewei­li­gen Bun­des­land – also für einen Euro am Tag. Und ein Kli­ma-Tickets zum Preis von fünf Euro pro Tag, also für 1825 Euro im Jahr für das gesam­te deut­sche Bahn- und Nah­ver­kehrs­netz und für alle öffent­li­chen Nah­ver­kehrs­sys­te­me im Land – die Bahncard100, die unge­fähr die­se Kri­te­ri­en erfüllt, kos­tet für die 2. Klas­se 4144 Euro.

In Öster­reich ist man da schon wei­ter: Das 365-Euro-Ticket gibt es in Wien seit einem Jahr­zehnt. Ein lan­des­wei­tes Kli­ma­ti­cket exis­tiert im Nach­bar­land seit Okto­ber 2021. Es kos­tet dort, also in einem deut­lich klei­ne­ren Land, 1095 Euro im Jahr, also drei Euro am Tag.

Die­se bei­den Tickets müss­ten lang­fris­tig vor­be­rei­tet wer­den. Dafür muss es eine Inves­ti­ti­ons­of­fen­si­ve im öffent­li­chen Ver­kehr und ins­be­son­de­re für die Schie­ne geben. Wer 100 Mil­li­ar­den Euro für Hoch­rüs­tung aus­gibt, kann nicht im Ernst behaup­ten, für die Ver­kehrs­wen­de und die Bekämp­fung der Kli­ma­kri­se feh­le es an Geld. In dem Maß, wie das Ange­bot im öffent­li­chen Ver­kehr ver­bes­sert und mit sol­chen güns­ti­gen Mobi­li­täts­kar­ten ermög­licht wird, soll­ten die Kos­ten für den Pkw-Ver­kehr stei­gen. Zudem soll­te der öffent­li­che Raum für Autos ein­ge­schränkt und für Fuß­gän­ger, Rad­fah­rer sowie für Spiel­plät­ze, Cafés und Kul­tur erwei­tert wer­den. Tem­po­li­mits kos­ten nichts und brin­gen schlag­ar­tig eine deut­li­che Reduk­ti­on beim Ver­brauch von fos­si­ler Ener­gie und bei den Straßenverkehrstoten.

So gin­ge Ver­kehrs­wen­de und Kli­ma­po­li­tik – wenn man denn wol­len würde.

Win­fried Wolf ist Mit­be­grün­der der neu­en Kli­ma­bahn-Initia­ti­ve, www.klimabahn-initiative.de

Der Artikel ist zuerst am 3.6.22 HIER erschienen.

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