Unendlich zahlt niemand für nichts
Rede von Dieter Reicherter, Vorsitzender Richter am Landgericht a.D., auf der 671. Montagsdemo am 14.8.2023
Bekanntlich ist das Projekt Stuttgart 21 nicht nur finanziell aus dem Ruder gelaufen. Seine Mängel sollen mit Ergänzungsprojekten gemildert werden, die nahezu nochmals so viel kosten werden. Dabei ist immer noch nicht geklärt, wer die Mehrkosten für das noch im Bau befindliche Projekt bezahlen soll. Beim Finanzierungsvertrag von 2009 war mit Baukosten von etwa 3 Milliarden € gerechnet worden. Zusätzlich wurde ein Risikotopf von 1,450 Milliarden für unerwartete Mehrkosten vereinbart. Geregelt wurde genau, wer wie viel für die Baukosten und im Falle von Kostensteigerungen in den Risikotopf einzahlen sollte. Für darüber hinausgehende Kosten wurde keine Regelung getroffen. Seit 2013 ist offiziell bekannt, dass die vertraglich gesicherten 4,526 Milliarden Euro nicht reichen werden und die Projektpartner weitere Zahlungen verweigern. Dennoch baut die Bahn seitdem auf eigenes Risiko weiter. Ende 2016 verklagte sie ihre Partner, einer ergänzenden Vereinbarung zur Finanzierung von bis zu gut 7 Milliarden Mehrkosten zuzustimmen. Die Gesamtkosten belaufen sich nach derzeitigem Stand schon auf 9,8 Milliarden.
Über den 2. Verhandlungstag am Verwaltungsgericht Stuttgart sprach Vorsitzender Richter am Landgericht a.D. Dieter Reicherter, Sprecher des Aktionsbündnisses gegen Stuttgart 21, auf der 671. Montagsdemo. Musikalisch begleitet wurde er dabei von der Capella Rebella mit passenden Liedern wie „Kriminaltango“, „Hämmerchen-Polka“ und „Ich brauche keine Millionen“.
Die Aufzeichnung kann abgerufen werden unter https://www.youtube.com/watch?v=bwdwmxnjcS0 ,
Nachstehend Auszüge aus der Rede:
Am 1. August 2023 fanden sich im Verwaltungsgericht wieder 25 Verfahrensbeteiligte ein. Also Rechtsanwälte und Vertreter der Kläger und Beklagten. Wobei das eigentlich falsch ausgedrückt ist, weil nach Auffassung des Gerichts sechseinhalb Jahre nach Klageerhebung immer noch nicht klar ist, ob das Land allein verklagt ist oder auch die Stadt Stuttgart, der Verband Region Stuttgart und der Flughafen. Aktuell nimmt ein Rechtsanwalt bei einem so wichtigen Verfahren einen Stundensatz von mindestens 400 €. Hochgerechnet auf alle Beteiligte ergibt das samt Gerichtskosten für den Prozess locker ein zweistelliges Millionensümmchen.
„Unendlich zahlt niemand für nichts.“ Das sagte der Vorsitzende Richter Wolfgang Kern über die vier Klagen der Bahn zur Finanzierung der Kostenüberschreitungen bei Stuttgart 21. Zu den über 7500 Aktenseiten meinte er: „Unser Kopf ist nicht groß genug, um sich das alles zu merken“.
Voraussetzung, dass überhaupt jemand zahlen muss, ist, dass etwaige Ansprüche der Bahn nicht verjährt sind. Das hängt davon ab, wann die Bahn Kenntnis von den Kostenüberschreitungen hatte. Letztlich ging es darum, ob das 2012 oder 2013 war. Dabei hatten wir schon Anfang 2013 eine Untreue-Strafanzeige gegen den Bahnvorstand erstattet und dabei dessen frühe Kenntnis der Kostenüberschreitung nachgewiesen. Auch war schon 2012 die Presse voll von entsprechenden Meldungen und sogar das Verwaltungsgericht Stuttgart hat im Verfahren wegen unseres Bürgerbegehrens Storno 21 rechtskräftig festgestellt, dass die Bahn 2012 Kenntnis von den Kostenüberschreitungen hatte.
Zum Glück liegt mir die vertrauliche Notiz vom 10.11.2010 aus dem Staatsministerium zur sogenannten Schlichtung unter Heiner Geißler vor. Dort ist von Kostensteigerungen die Rede und davon, dass von allen Beteiligten zusätzliche Mittel bereitgestellt werden müssten. Diesen Vermerk habe ich nun dem Verwaltungsgericht mit einem höflichen Schreiben zur Kenntnisnahme übersandt.
Eine Sauerei kam auch noch heraus. Denn man hatte bei den Vertragsverhandlungen vereinbart, dass es auf von der Bahn verursachte Kostensteigerungen nicht ankomme. Bis zum Höchstbetrag von 4,526 Milliarden mussten die Projektpartner auch für solche unnötigen Kosten mitbezahlen.
Nachmittags packte die Bahn mit stark erhöhten Klageanträgen den Hammer aus. Sie will die über 4,526 Milliarden hinausgehenden Mehrkosten gleich aufteilen wie im Risikotopf mit 1,450 Milliarden. Ihre Projektpartner sollen einfach das Fünffache ihrer Anteile am ursprünglichen Risikotopf draufzahlen. Das sind schlappe 4,700 Milliarden. Dann käme man mit dem Anteil der Bahn auf eine Verteilung von Kosten bis 11,776 Milliarden. Die Bahn räumte dabei ein, auch durch diese Milliardennachzahlungen könne die Wirtschaftlichkeit des Projekts nicht hergestellt werden.
Weil der Risikotopf nur in der ursprünglichen Vereinbarung vorkommt, hat der Bahnanwalt einen neuen Begriff erfunden. Er nannte nämlich die 5 weiteren Zahlungsstufen in Höhe von jeweils 1,450 Milliarden „Kaskaden“. Meine Nachschau im Duden ergab, dass man auch einen wagemutigen Sprung in der Artistik als „Kaskade“ bezeichnet. Als Beispiel wird der Salto Mortale genannt. Da war mir klar, wie es zu der fünffachen Kaskade gekommen ist.
Jetzt weiß nicht einmal die Bahn, ob tatsächlich Land, Stadt, Region und Flughafen zahlen sollen oder vielleicht nur Land, Stadt und Flughafen oder nur Land und Stadt oder nur das Land. Jedenfalls wünscht sie in erster Linie, dass Land und Stadt zusammen 4,103 Milliarden Euro draufzahlen müssen und der Flughafen 597 Millionen. Wenn man dabei die interne Verteilung im Risikotopf zugrunde legt, würde das die Stadt Stuttgart mit etwa 1,3 Milliarden treffen. Allerdings wäre bei einer entsprechenden Verurteilung dieser Betrag auf einen Schlag fällig und nicht wie im Finanzierungsvertrag in zehn Jahresraten. Rückstellungen gibt es nicht. Da wird man wohl einige Kindergärten und Schulen schließen müssen.
Falls tatsächlich auch die Region für die Mehrkosten bluten muss, würde das wieder über die Kreisumlage auf die Gemeinden verteilt. Beispielsweise entfiele dann auf meine Heimatgemeinde Althütte mit 4.300 Einwohnern, die für S21 in 10 Jahren 150.000 € bezahlt hat, eine fünfmal so hohe Nachzahlung auf einen Schlag, also 750.000 €, obwohl sie dieses Jahr schon ein Haushaltsdefizit von fast einer Million hat.
Aber eigentlich ist es sowieso egal, wer wie verurteilt wird. Denn zahlen müssen immer die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler und die Bahnreisenden. Weswegen die Prozesshansel lustig weitermachen werden. Geradezu philosophisch war Kerns Aussage: „Vielleicht muss niemand mehr zahlen und Sie hätten aufhören sollen“. Er setzte noch einen drauf mit dem Spruch: „Wir werden nicht darüber entscheiden, ob Sie weiterbauen müssen“. Aber das wird die Beteiligten nicht davon abhalten, in kollektiver Verantwortungslosigkeit weiter teure Fakten zu schaffen.