rail blog 371 / Joachim Holstein

Are you serious?

Machen wir mal ein Quiz:

Was würden Sie erwarten, wenn Sie im Zusammenhang mit der Deutschen Bahn diese Schlagzeile im Internet lesen? Und auf was für einer Website taucht sie wohl auf?

»Schlimmer als in England kann es nicht sein, dachte ich. Dann fuhr ich von Flensburg nach Berlin«

  1. Die Zugreise kostete 400 Euro
  2. Der Zug entgleiste wegen mangelhafter Instandhaltung der Trasse
  3. Hooligans eines Fußball-Drittligisten stürmten den Zug und schlugen alle und alles zusammen
  4. Mitten auf der Rendsburger Hochbrücke kam die Oberleitung runter
  5. Da die Strecke wegen eines Brandes gesperrt wurde, wurden die Reisenden zwei Stunden später als geplant mit einem ICE statt mit einem RE ans Ziel gebracht
  6. Wegen einer falschen Anzeige am Bahnsteig fuhr der Reisende von Uelzen Richtung Göttingen statt Richtung Berlin
  1. Die WELT
  2. Berliner Morgenpost
  3. BILD
  4. NIUS
  5. Der SPIEGEL

Richtig sind: 5) und e).

Und im Text zieht der Autor selbst ein differenziertes, tendenziell positives Fazit:

Natürlich war ich an diesem Tag einfach zur falschen Zeit am falschen Ort. In meinen drei Monaten in Deutschland hatte ich ansonsten recht gute Erfahrungen mit der Deutschen Bahn gemacht. Eine andere lange Fahrt zwischen Berlin und Hof klappte ganz ohne Zwischenfälle.

Und auch auf meiner Fahrt von Flensburg nach Berlin kam ich schließlich an. Nach fast zwei Stunden in Bienenbüttel kam die erlösende Info: Der nächste ICE würde uns mitnehmen. Nach Umstiegen in Uelzen und Stendal erreichte ich Berlin gegen Mitternacht. Nach elf Stunden Fahrtzeit.

https://www.spiegel.de/auto/ein-englaender-und-die-deutsche-bahn-als-ich-fuer-zwei-stunden-in-bienenbuettel-strandete-a-5b7b0ae8-9135-42f7-97c3-4b18d8c39fec

Na immerhin, könnte man jetzt sagen, und das Erlebnis als ein Exempel dafür nehmen, dass einzelne Negativereignisse stärker im Gedächtnis bleiben als der – positive – Normalzustand.

Wenn es denn nicht genutzt worden wäre, um in einem der deutschen Leitmedien Bahn-Bashing zu betreiben, einen schrillen Vergleich mit dem britischen Eisenbahnsystem zu ziehen – und wenn nicht beim genauen Hinschauen und Recherchieren Dinge zutage treten würden, bei denen man sich fragt, warum der SPIEGEL diesen Text durch die Qualitätskontrolle hat rutschen lassen: die angegebenen Zeiten passen weder zueinander noch zum realen Geschehen am Tag der Reise.

Der Autor schreibt, dass er an einem Juniwochenende von Flensburg nach Berlin fuhr und als Deutschlandticket-Inhaber alles mit Nahverkehrszügen machen wollte: »Fast sieben Stunden, dreimal umsteigen.«

Dann kam im RE zwischen Hamburg und Uelzen die Durchsage, in einem Zug weiter südlich brenne es. Also endete die Fahrt vorerst in Bienenbüttel, ehe die oben zitierte Nachricht kam, dass nach Löschung des Brandes und Freigabe der Strecke ein ICE – offenbar außerplanmäßig – in Bienenbüttel halten und die Reisenden nach Süden befördern würde.

Das hört sich nach einem relativ gutem Krisenmanagement an, abgesehen davon, dass eine Ansprechperson vor Ort einen riesigen Unterschied ausmachen würde.

Aber wenn es nach zwei Stunden weiterging – warum dauerte dann die Reise elf statt sieben Stunden? Zwei Minuten Recherche zeigen, dass die Uhrzeiten nicht passen:

In einem Nahverkehrszug, der am Sonntagabend zwischen Uelzen und Hamburg unterwegs gewesen war, ist eine Bremse in Brand geraten. Der Rauch zog auch in einen Waggon, in dem sich Fahrgäste befanden. 

Nach ersten Erkenntnissen der Bundespolizeiinspektion Bremen brach das Feuer gegen 18.30 Uhr im Metronom 82132 aus. Demnach befand sich der Zug zu dem Zeitpunkt kurz vor Bad Bevensen auf Höhe der Ortschaft Klein Bünstorf.

Ein mitreisender Feuerwehrmann löschte den Brand. Daraufhin setzte der Zug seine Fahrt mitsamt Reisenden weiter bis nach Bad Bevensen fort. Dort mussten die 250 Reisenden in einen Ersatzzug umsteigen, der sie nach Hamburg brachte. „Wegen des Vorfalls waren verschiedene Rettungs- und Einsatzkräfte im Einsatz und die Bahnstrecke nach Hamburg musste für etwa zwei Stunden gesperrt werden“, so die Sprecherin. 

https://www.haz.de/der-norden/metronom-zug-geraet-zwischen-uelzen-und-hamburg-in-brand-LDQAQ57TOZHHFC4C6PBVWLSBLU.html

Der Metronom hatte offenbar Verspätung, denn planmäßig verlässt er Uelzen um 18:01 Uhr und hat den nächsten Halt um 18:08 in Bad Bevensen.

Unser Autor, der nach elf Stunden Fahrzeit gegen Mitternacht Berlin erreichte, muss folglich gegen 13 Uhr in Flensburg abgefahren sein, um nach geplanten sieben Stunden Fahrzeit gegen 20 Uhr in Berlin anzukommen. Das wäre diese Verbindung hier:

Flensburg ab um 13:15 Uhr mit RE 7, Ankunft um 15:15 Uhr in Hamburg Hbf, Weiterfahrt um 15:57 Uhr mit dem Metronom nach Uelzen nehmen, dort Ankunft um 16:56 Uhr und Weiterfahrt um 17:17 Uhr mit dem RE 20 Richtung Magdeburg weiterfahren, den man um 18:32 Uhr in Stendal verlässt, damit man mit dem um 18:44 Uhr abfahrenden RE 4 Richtung Jüterbog um 20:01 Uhr Berlin Hbf erreicht.

Diesem Plan gegenüber war der Autor wirklich »zur falschen Zeit am falschen Ort«, wie er schreibt, denn kurz vor Stendal hätte ihn eine Streckensperrung nördlich von Uelzen nicht mehr interessiert. Er war also offenbar zwei Stunden später unterwegs – vielleicht wegen einer Pause in Hamburg oder in Lüneburg? – und wäre dann mit dem Zug, der Uelzen um 18:56 Uhr erreichen sollte, nur bis zum Halt in Bienenbüttel um 18:42 Uhr gekommen.

Warum schreibt man das nicht, sondern erweckt den Eindruck, die Reise habe wegen des Brandes vier Stunden länger und damit insgesamt elf Stunden gedauert?

Und wenn wir schon dabei sind: Wenn es im Text und laut Fahrplan »fast sieben Stunden« planmäßige Reisezeit waren: Warum steht dann in der Zwischenüberschrift »7,5 Stunden Zugfahrt«?

Wenn er ein Deutschlandticket – offenbar wegen seines Jobs und für den ÖPNV in Berlin – hat: Warum schreibt er, dass ihn die Fahrt von Flensburg nach Berlin 58 Euro gekostet habe? Sie war gratis!

Aber vor allem: Was an den zwei Stunden Verspätung mit Upgrade in den ICE war denn nun schlimmer als in England (bzw. Großbritannien), einem Land, dessen Bahnwesen er so charakterisiert:

In Großbritannien sind Bahnfahrten astronomisch teuer. Beispielsweise kostet ein Ticket von Bristol im Südwesten, wo ich wohne, nach Newcastle im Nordosten meist 116 Pfund (rund 134 Euro) in der Standard-Klasse – sofern man früh genug bucht. Mit den günstigsten Flügen käme man mit 24 Pfund weg. Dafür kommen die Züge nicht mal pünktlich.

Das Land ist großteils abhängig vom Auto, ein Erbe der Nachkriegszeit, als Stadtmitten für Straßen zubetoniert wurden. Ins Schienennetz wurde jahrzehntelang zu wenig investiert. Die Stadt Leeds gilt mit über 800.000 Einwohnern im Metropolbezirk gar als die größte Stadt Westeuropas ohne Nahverkehr auf der Schiene, also ohne U- und Straßenbahnen.

In Bristol ist es genauso deprimierend: Dort gab es bis zum Zweiten Weltkrieg ein weitläufiges Straßenbahnsystem, das bis heute nie ersetzt wurde. Im Alltag fahre ich meistens Rad, um schneller durch die von Autos und Bussen verstopften Straßen zu kommen.

Für Berufspendler bleiben meist zwei Möglichkeiten: Entweder Autofahren. Oder einen Haufen Geld für eine Dauerkarte der Bahn berappen. (Ich habe gerade gegoogelt, wie viel es mich kosten würde, regelmäßig zwischen Bristol und London mit dem Zug zu pendeln: 15.404 Pfund im Jahr. Für eine Strecke von etwa anderthalb Stunden, die von der Fahrzeit her mit der Verbindung Hamburg-Hannover vergleichbar ist.)

Ich weiß, auch in Deutschland wurde an der Schiene gespart, auch hier fehlt oft ein guter Nahverkehr in den Städten. Trotzdem ist er hier viel erschwinglicher. Was für ein Schnäppchen ist es bitte, dass man hier für 58 Euro im Monat durchs Land fahren kann? In meiner Heimat gibt es kein »Großbritannien-Ticket«.

Das wäre doch mal ein Thema für den nächsten Artikel oder den nächsten Podcast, egal ob für den SPIEGEL oder den GUARDIAN: Welche Akteure mit welchen Interessen haben im Mutterland der Eisenbahn dieses Verkehrsmittel derart heruntergewirtschaftet?

Andreas Kleber schrieb mir hierzu eine Mail, in der er zwei »KO-Schläge« nannte: die »Beeching-Axt« und die »Eiserne Lady« Margaret Thatcher mit ihren Nachfolgern John Major und Tony Blair. Zum Nachlesen empfehle ich seine Blogbeiträge 35, 169 und 197 und die Wikipedia-Einträge.

https://de.wikipedia.org/wiki/Beeching-Axt

Über Joachim Holstein

(*1960) arbeitete von 1996 bis 2017 als Steward in Nacht- und Autozügen der DB, war von 2006 bis zur Einstellung dieser Verkehre Betriebsrat der DB European Railservice GmbH und zuletzt Sprecher des Wirtschaftsausschusses. Mitbegründer der Initiative zur Rettung des Nachtzuges Hamburg-Paris (2008; »Wir wollen nach Paris und nicht an die Börse«) und des europäischen Netzwerks für Nachtzüge »Back on Track« (2015; https://back-on-track.eu/de/); Weiteres unter www.nachtzug-bleibt.eu

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