rail blog 197 / Andreas Kleber

04.10.2023

Notbremse für Hochgeschwindigkeitszüge

*Es war wohl die größte Entgleisung in der Verkehrs-Eisenbahnpolitik im Mutterland der Eisenbahn seit der Privatisierung von British Rail.

Und dies ausgerechnet auf dem Parteitag der Tories in Manchester am 4.10.2023.

Prime Minister Sunak sorgte landesweit für den größten Wirbel, indem er beim Bau des Hochgeschwindigkeitsnetzes die Notbremse zog. Die Kosten des Schienennetzes, das die nördlichen Städte Manchester und Leeds über Birmingham mit London verbinden sollte, waren 2009 auf knapp 40 Milliarden Pfund veranschlagt worden. Sie drohten nun aber die Grenze von 100 Milliarden Pfund (116 Milliarden €) zu überschreiten, obschon der Abzweiger nach Leeds bereits aus der Planung gestrichen wurde. Das ist deutlich mehr, als vergleichbare Projekte in anderen Ländern kosten.

Nun soll die Schnellbahn nur noch von London bis vor die Tore von Birmingham rasen und von dort aus auf dem herkömmlichen Schienennetz nach Manchester tuckern. Der Premierminister argumentierte, nach der Pandemie hätten die Geschäftsreisen abgenommen. Und er versprach, die dadurch eingesparten 36 Milliarden Pfund in einen ganzen Strauß von regionalen Bahnprojekten und den Ausbau von Straßen (!) und Busverbindungen im Norden des Landes zu investieren.

Die ungewisse Zukunft von HS2 war bis am Mittwoch wie ein Schatten über dem Parteitag der Tories gehangen. Denn das Projekt stand auch symbolhaft für das von Boris Johnson nach dem Brexit abgegebene Versprechen der Konservativen, dank Investitionen in die Infrastruktur das Gefälle zwischen dem wohlhabenden Süden und dem strukturschwachen Norden Englands auszugleichen.

Andy Street, der konservative Bürgermeister der West Midlands, ließ seinem Ärger bereits vor Sunaks Ankündigung freien Lauf: „Wir sind ein wichtiges G-7-Land und können nicht einmal eine Bahnlinie zwischen London und Manchester bauen, das ist eine nationale Schande.“

Auch Boris Johnson meinte, ein Übungsabbruch wäre «schwachsinnig» und ein internationales Zeichen dafür, dass Großbritannien nicht mehr zur Realisierung von Großprojekten fähig sei.

2009 wurde die Projektgesellschaft High Speed Two gegründet: nach all den vielen Misserfolgen mit der Bahnprivatisierung wollte die konservative Regierung das Land auf der Schiene voranbringen: gleichzeitig mit dem Wunsch, den reichen Süden, den wirtschaftlich schwachen Norden Englands und Schottland auf der Schiene mit dem größten Bahnprojekt seit 1835 zu verbinden. Boris Johnson verkündete am 11.02.2020, dass auf dem ersten Abschnitt bis Birmingham 2028 die Züge auf der neuen Strecke fahren; nach Manchester und Leeds 2031, die Inbetriebnahme nach Schottland würde 2035 folgen. Archäologische Bedenken bei Versuchsbohrungen wurden als nonsense abgetan. Doch Ende 2021 gab das Verkehrsministerium bekannt, dass lediglich zwei kürzere Abschnitte (Birmingham-Nottingham, Sheffield-Leeds) für den HGV ausgebaut werden. Auch der Nordwestliche Abschnitt nach Manchester wurde aus Kostengründen gestrichen.

Statt der geplanten 34 Milliarden £ erreichte das Projekt inzwischen 88 Milliarden £; und der Oakervee Report sprach von 106 Milliarden £.

Zu Kostensteigerungen führte unter anderem die Anforderung der britischen Regierung, wonach die Auftragnehmer das wirtschaftliche Risiko sämtlicher Bauverspätungen tragen sollen. Das Vorhaben sollte größtenteils über Anleihen finanziert werden, die durch zukünftiges Wirtschaftswachstum und gesteigerte Produktivität in den von der HS2 profitierenden Regionen refinanziert werden sollen.

Altgediente prominente Tory MP wie Michael Heseltine und David Osborne ermahnten Sunak, an diesem Projekt festzuhalten, um „den Norden und die Midlands nicht aufzugeben“. Doch der ehemalige Verkehrs- und jetzige Verteidigungsminister Grant Shapps äußerte am 24.09.2023 in der BBC, dass es unverantwortlich wäre, ein Projekt, welches von 33 auf ca. 100 Mrd. gestiegen ist, „durchzuziehen“. Selbst die Fahrzeitgewinne zwischen den Metropolen (Birmingham 52 statt 81 min; Leeds und Liverpool 84 statt 96 minuten) würden für das Gesamtnetz keinen Nutzen bringen, da diese Bahnhöfe teils außerhalb der Metropolen liegen. Zudem würden dadurch wichtige Schieneninfrastrukturprojekte auf Eis gelegt.

Und so zog Prime Minister Sunak am 4.10.2023 die „Notbremse“; auch im Hinblick auf die nächste Wahl; die meisten Bewohner in ländlichen und strukturärmeren Gebieten befürchten, dass sie durch HS2 für die nächsten Jahrzehnte vom Schienenverkehr abgehängt werden; und in diesen Gegenden haben die meisten Tory-MP ihre Wahlkreise…

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