Bahnen, Architektur und Stadtentwicklung (2)

Bahnen forcieren Raumentwicklung

In der Blütephase der stürmischen Industrialisierung und Stadtentwicklung Europas spielten die Bahnen eine entscheidende, raumstrukturierende Rolle. Zunächst wurden die Schienentrassen am Rande der damals noch überwiegend sehr kompakten Städte jenseits der alten Mauern und Wälle gebaut. Hier war Platz für eine neue Entwicklung. Es entstanden neue Bahnhofsviertel mit typischen Mustern, deren Straßennetze meist zentral auf den damaligen (Haupt)Bahnhof ausgerichtet waren. Die Straßen waren dort meist breiter als in den verwinkelten Altstädten.

Hauptbahnhöfe als Kathedralen des Fortschritts

Die Hauptbahnhöfe erhielten ein in der Größe und im architektonischen Schmuck dominierendes Hauptgebäude, das den ganzen Stolz der Investoren auf ihre neuen Bahnen repräsentierte. Vor dem Bahnhof wurde meist ein größerer Bahnhofsplatz lokalisiert, mit einem dominanten Denkmal des Landesherren oder Investors, mit Springbrunnen, sehr viel Schmuckgrün und einer Vorfahrt für Pferdekutschen sowie ab 1900 mit Gleisen für die Straßenbahnen, die damals auch in den meisten Mittel- und Kleinstädten etabliert wurden und den Bahnhof an die verschiedenen Viertel anbanden. Neben dem Bahnhof wurde oft in ebenso repräsentativer Architektur das Post- und Telegraphen- und Paketamt etabliert. Diese bedeutsamen öffentlichen Gebäude repräsentierten immer auch den besonderen Reichtum der jeweiligen Stadt.

Regionalisierte Bahnarchitektur

In der Bahnarchitektur entwickelte sich eine interessante Vielfalt, weil meistens sehr renommierte Architekten mit einer ganzen Serie von Bahnbauten beauftragt wurden. Es entstand eine Art »Systemarchitektur«, weil aufgrund der Bahntechnik bestimmte betrieblich-technisch erforderliche Bauwerke immer und überall zu errichten waren, wie beispielsweise das Empfangsgebäude, die Bahnhofshalle, die Gleisüberdachung, der Lokschuppen mit Drehscheibe, der Güterschuppen, der Kohlebunker, der Wasserbehälter, oft als Wasserturm, das Bahnwärterhäuschen und die Stellwerke. Vielfach wurden alle diese Gebäude in einer ganz bestimmten Stilrichtung konzipiert, also beispielsweise im Historismus, Heimatstil, barockisierend oder in Anlehnung an die Renaissance. Später kam dann der Modernismus mit mehr strengen, kubistischen Designlinien dazu, ehe jahrzehntelang das Bauen rund um die Bahnen nur noch mit geringer gestalterischer Ambition verbunden wurde, als reiner Zweckbau.

Bahn und Stadtentwicklung

Neben dieser Frage der Architektur ist die Rolle der Bahnen für die Stadtentwicklung und Raumstruktur bedeutsam. Große Bahnknoten wurden immer zum Nukleus dynamischer Stadtentwicklung, weil von hier ja Bahnlinien in alle Richtungen ausstrahlten. Und längs dieser Bahnlinien entstanden dann neue Siedlungsschwerpunkte an allen Bahnhöfen und Haltepunkten. So vollzog sich eine mehr lineare Siedlungsentwicklung, deren Grundmuster die Schienenstrecken vorgaben. Das galt vielfach auch für die Anordnung neuer Industrie- und Gewerbegebiete, die sich ebenfalls stark an den Schienennetzstrukturen orientierte. Gewerbe ohne eigenen Schienenanschluss war kaum vorstellbar.

Bahnen und Wohnungsbau

Die Bahnen waren aber selber auch als Pioniere des Wohnungsbaus tätig, weil das große Heer der Bahnbeschäftigten ja möglichst nah zur Arbeitsstätte leben sollte. Und so wurden sehr viele Bahnsiedlungen im Stil der jeweiligen Zeit errichtet, als große, zusammenhängende Wohnsiedlungen, vielfach auch mit eigener Versorgungsinfrastruktur einschließlich Sportplatz, Schrebergärten, Freizeitheim et cetera.

Über Prof. Dr. Heiner Monheim

(*1946), Geograf, Verkehrs- und Stadtplaner, seit den 1960er Jahren befasst mit den Themen Flächenbahn, Schienenreaktivierungen, Erhalt des IR, S-Bahnausbau und kleine S-Bahnsysteme, Stadt- Umland-Bahnen, neue Haltepunkte, Güter-Regionalbahnen, Bahnreform 2.0, Kritik der Großprojekte der Hochgeschwindigkeit und Bahnhofsspekulation. Details: www.heinermonheim.de

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