„Keine Worte für diesen Zustand“
Von Klaus Gietinger (Interview) in Kontext-Wochenzeitung
Datum: 14.02.2024
Anmerkung: An der Stuttgarter Veranstaltung mit Benedikt Weibel haben am 14.2. etwa 500 Menschen teilgenommen.
Nirgendwo in Europa sind die Züge so pünktlich wie in der Schweiz. Benedikt Weibel war Generaldirektor der dortigen Bundesbahn. Im Gespräch kritisiert er die Deutsche Bahn für seltsame Prioritäten und unsinnige Hochgeschwindigkeitsstrecken.
Herr Weibel, Sie haben kürzlich Punkte für eine bessere Deutsche Bahn postuliert. Der erste war: sicher, pünktlich, sauber. Wie erreicht man das?
Das ist eine Frage der Kultur, und das heißt: Man muss einen effizienten Lernprozess aufsetzen und die Entwicklung täglich verfolgen. Wenn man spürt, dass eine Entwicklung problematisch ist, muss man Projekte anstoßen. Dieser Lernprozess, der muss systematisiert sein, und der darf nie aufhören.
In Deutschland machen nur wenige Großstadtbahnhöfe etwas her. Müssten die kleineren Bahnhöfe im Land nicht auch saniert und mit Personal besetzt werden?
Natürlich. Im Übrigen finde ich, nicht einmal die Großbahnhöfe geben viel her. Also ich war kürzlich in Ulm oder auch in Frankfurt, das ist eigentlich Tristesse, und sie sind schlecht genutzt. Ich kenne die Bahnhöfe relativ gut, weil ich da schon oft mit dem Fahrrad umsteigen musste von einem Zug auf den anderen, es gibt ja nirgends eine Rampe. In der Schweiz haben sie heute praktisch in jedem Bahnhof Rampen, was es natürlich auch für die Reisenden mit Rollkoffern und so weiter sehr einfach macht. Wenn Sie in Deutschland einen Lift finden, dann hat der mit fünfzigprozentiger Sicherheit eine Panne. Also da ist der Nachholbedarf eigentlich fast überall enorm groß, mit Ausnahme von Berlin natürlich, das ist etwas anderes, das wurde neu gebaut.
Foto: Michel Stahl
Benedikt Weibel, Jahrgang 1946, studierte BWL in Bern. Ab 1978 arbeitete er für die SBB, zunächst als Sekretär des Präsidenten der Generaldirektion. Von 1993 bis 2006 war er Vorsitzender der Geschäftsleitung. Anschließend unterrichtete Weibel als Honorarprofessor an der Universität Bern Praktisches Management. Seit 2009 ist er zudem Verwaltungsratsvorsitzender der österreichischen Westbahn. Weibel ist Mitglied der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz (SP). (red)
In Lindau-Reutin wurde ein neuer „Bahnhof“ angelegt ohne Bahnhofsgebäude. Oft gibt es in Deutschland gar keine Gebäude mehr, sie wurden verkauft oder sie verfallen.
Wir haben in der Schweiz Bahnhöfe, da gibt es keine Schalter mehr, aber der Bahnhof hat zum Beispiel ein kleines Café mit einem Lebensmittelladen, und der Bahnhof ist dadurch belebt, es funktioniert und es macht einen anständigen Eindruck. Wir haben natürlich auch vom Denkmalschutz her die Verpflichtung, diese Liegenschaften, die vorhanden sind, zu pflegen, die kann man nicht einfach verfallen lassen. Ich muss auch sagen, es gibt großartige Beispiele: Ich liebe den Bahnhof Basel, weil da Alt mit Neu wunderbar kombiniert wurde mit einer Ladenpassage, und das macht heute einfach einen enorm guten Eindruck. Oder Zürich, ungefähr aus dem Jahr 1870, ein großartiger Bahnhof!
Aber Sie haben doch in der Schweiz auch kleinere Bahnhöfe?
Ja, ich war kürzlich in Altstätten im Rheintal, morgens früh um 6 Uhr habe ich dort schon einen Kaffee gekriegt, es war wirklich angenehm. Und gerade für die Geschäfte ist das auch an S-Bahn-Stationen kommerziell extrem interessant: bei den heutigen Arbeitsbedingungen – beide Partner arbeiten – noch für einen kurzen Einkauf am Abend. Das ist übrigens auch bei den Detailhändlern enorm beliebt, die machen dort die größten Quadratmeterumsätze, auch auf kleineren S-Bahnhöfen.
In Deutschland gibt es Hochgeschwindigkeitsstrecken mit teils 300 Kilometer pro Stunde. Ist das überhaupt sinnvoll?
In Deutschland ist es absolut nicht sinnvoll. Deutschland ist kein Hochgeschwindigkeitsland, weil sich die ganze Demografie dafür nicht eignet, das System ist viel zu komplex. Da sind ja im Bereich Rhein-Ruhr unzählige Großstädte in engem Raum aufeinander, da macht das überhaupt keinen Sinn, weil Hochgeschwindigkeitstrassen unglaublich teuer sind, und man kann sie nur für eine Zugkategorie nutzen. Das kann man nur machen in Ländern wie Japan, wo alle drei Minuten ein Hochgeschwindigkeitszug mit über 1.000 Leuten abfährt auf der Strecke zwischen Tokio mit über 30 Millionen Leuten und Osaka mit 15 Millionen, und in Nagoya sind es auch über 10 Millionen. Das kann man gar nicht vergleichen mit unseren Verhältnissen.
Stimmt es, dass es in der Schweiz die Bahn-Höchstgeschwindigkeit 200 Kilometer pro Stunde gibt?
200, ja. Wissen Sie, man könnte 230 Kilometer pro Stunde fahren im Gotthardtunnel, aber da ist die zusätzliche Energie so unglaublich hoch. Das habe ich bei der Westbahn gelernt: Im Wiener Tunnel kann man 200 fahren, das hat uns – der Tunnel ist ja nicht sehr lang – die Energiekosten im Gesamtbereich um mehr als 20 Prozent erhöht. Wir haben gesehen, wir können es mit 180 machen, wir haben den Fahrplan einhalten können und fahren 180.
Wichtig ist doch die Netzgeschwindigkeit und nicht die Höchstgeschwindigkeit.
Entscheidend sind natürlich die Fahrzeitvergleiche, die wir haben, und da muss ich auch mit dem Auto vergleichen. Natürlich dauert es lange von Genf bis nach Zürich, aber wenn ich das am Morgen in Google Maps eingebe, da geht’s auf der Autobahn noch wesentlich länger als mit der Bahn, also habe ich kein Problem.
Würden 200 oder 230 Kilometer pro Stunde in Deutschland auch reichen?
Ich würde einfach sagen, die hohe Geschwindigkeit macht keinen Sinn. 200 ist okay und 200 hat viel Potenzial, gerade im Osten. Ich habe das übrigens als UIC-Präsident (Internationaler Eisenbahnverband: ein internationaler Verband von Eisenbahnunternehmen) von meinem Vizepräsident – dem indischen Verkehrsministeren – gelernt: Indien kann sich Hochgeschwindigkeit nie leisten, für Indien ist 200 Kilometer pro Stunde der Maßstab. Und ich meine, Indien hat andere Distanzen, andere Metropolen, und ich finde das sehr vernünftig.
Sie schrieben vor Kurzem, man solle nur die Bahninvestitionen tätigen, die rasch zu verwirklichen sind. Da müsste man ja alle Hochgeschwindigkeitsprojekte in Deutschland stoppen?
Ja gut, die geplanten Ausbau-Vorhaben sollte man sehr, sehr kritisch überprüfen und einfach eine knallharte Kosten-Nutzen-Rechnung machen. Ich sehe das jetzt auch in der Schweiz, da wird völlig sinnlos Geld verbuttert, und ich muss sagen, diese Branche hat das Verhältnis zum Geld irgendwie verloren, da ist die Einheit ja praktisch eine Milliarde. Diese Großprojekte gehen viel zu lange, sie bringen nichts für CO2-Neutralität bis zum Zieljahr 2050. Und für mich steht das im Vordergrund: Wir wissen alle, dass da auf die Mobilität eine Riesenaufgabe zukommt, und da können wir einfach nicht warten. Da bringen Investitionen, die nach 2050 überhaupt erst in Betrieb genommen werden können, überhaupt nichts.
Damit kurz zu Stuttgart 21. Was halten Sie davon?
Ich muss sagen, das ist für mich der Aberwitz dieses Projekts, dass man am Schluss vom ganzen süddeutschen Raum – von der Schweiz übrigens auch noch – nicht mehr nach Stuttgart reinkommt. Ich erinnere mich noch an die Pendolino-Züge von Stuttgart bis Mailand, das waren noch die goldenen Zeiten. Ich muss sagen, dass man da Milliarden verbaut, Milliarden und Abermilliarden, und am Schluss ist das Angebot so schlecht für eine ganze Region. Ich finde gar keine Worte für diesen Zustand!
Von der Schweiz aus kommt man dann nicht mehr nach Stuttgart?
Es gibt keine Direktverbindung mehr über die Gäubahn aus Richtung Zürich, die wird kurz vor der Inbetriebnahme von Stuttgart 21 gekappt (Kontext berichtete mehrmals, unter anderem hier). Ich würde jetzt zuerst einmal für Rottweil und all diese Kommunen entlang der Gäubahn sprechen und sagen: Jetzt kommt auf die Füße – das braucht nicht unbedingt mit Traktoren zu sein –, aber dass man diese Kommunen abhängt, nach all den Jahren! Ich meine auch von der Laufzeit her – 1994 wurde dieses Projekt lanciert und wird jetzt vielleicht 2025 in Betrieb genommen, woran ich übrigens noch starke Zweifel habe –, aber dass man am Schluss das Angebot für eine ganze Region massiv verschlechtert, also das kann’s doch einfach nicht sein!
In Deutschland sind nur 60 Prozent der Strecken elektrifiziert. Was sagen Sie als Schweizer dazu?
Auch das finde ich eigentlich unglaublich. Das ist ein kollektives Versagen sämtlicher Organe des Staates, des Rechnungshofes, aller, die dieses Netz derart vernachlässigt haben, auch die Modernisierung.
Was halten Sie von den geplanten monatelangen Sperrungen der Hauptstrecken in Deutschland zwecks „Generalsanierung“?
Ich kann mir es nicht vorstellen. Ich muss auch sagen, rein empirisch hat es noch nie eine Bahn vergleichbar gemacht. Wir sanieren unseren Hauensteintunnel jetzt zum zweiten Mal auf zwei Spuren, durch den geht der ganze Transitverkehr, Güter- und Personenverkehr. Der wird im Betrieb saniert und das geht. Wir wissen von der Sperrung bei Rastatt, dort war es wegen einer Havarie. 51 Tage war die Strecke außer Betrieb, das hat volkswirtschaftliche Kosten von zwei Milliarden verursacht. Ich meine, es gibt etwas sehr Positives in Deutschland, dass jedes Mal – und ich bin im letzten Jahr sehr viel Bahn gefahren in Deutschland – die Züge ja alle voll sind. Und wenn ich mir vorstelle, was die alle machen – ich kann mir es nicht vorstellen! Ich kann die Idee wirklich nicht begreifen.
Die neuen Hochgeschwindigkeitsstrecken in Deutschland bestehen großteils nur noch aus Tunnels.
Es ist unglaublich teuer, wenn sie nur noch Viadukte haben und Tunnels, und wenn es dann noch eine Hochgeschwindigkeitslinie ist, auf der kein Regionalverkehr, kein Güterverkehr fährt, dann ist es einfach auch ökonomisch gesehen ein Unsinn – ich muss es einfach sagen.
Was halten Sie von der in Deutschland versuchten Trennung von Netz und Betrieb?
Da bin ich absolut dagegen, das ist mein einziges Dogma, das ich je hatte. Wenn man das auseinandertrennt und jeder Bereich optimiert sich selber, dann geht das zulasten des Gesamtsystems, und ich muss Ihnen sagen, ich weiß, wovon ich rede. Ich war nicht nur Chef einer Staatsbahn, ich war zwölf Jahre lang Aufsichtsratsvorsitzender der Westbahn, die fährt auf den Gleisen der ÖBB, und wir haben die Macht der ÖBB spüren gelernt. Und trotzdem bin ich der Meinung, es ist richtig, dass die ÖBB die Infrastruktur in ihren Händen hält, anders geht es einfach nicht.
Die DB verlangt für das Netz sehr hohe Trassenpreise. Ist das nicht ein Nachteil?
Was ich nicht begreife, ist, dass die Bahn – die Staatsbahn – die Trassenpreise festlegt, in Österreich übrigens auch. Das ist eigentlich wirklich unbegreiflich, weil in der Schweiz ist das eine Verordnung der Regierung, und sie hat einen Regulator, der dafür sorgt, dass die Trassenzuteilung diskriminierungsfrei ist. Und dann haben sie das System, auch den Wettbewerb im Griff. Aber dass diese Bande die Infrastruktur benutzt, autonom die Trassenpreise festlegt, halte ich wirklich für eine Maßnahme, die untolerierbar sein müsste!
Die DB tritt seit der Bahnreform 1994 als Global Player auf. Sollte sie sich nicht lieber auf das Bahnfahren in Deutschland konzentrieren?
Diese Global-Player-Attitüde ist natürlich Teil des Problems, das ist klar. Wenn Sie im Management den Kopf im weltweiten Logistikmarkt haben, dann vergessen Sie natürlich den Kunden in Mainz. Also da bin ich ganz klar, das hat zum Teil dazu beigetragen, dass die Kultur der Eisenbahner schwer beschädigt worden ist.
Müsste also ein Eisenbahner oder eine Eisenbahnerin an die Spitze der Deutschen Bahn?
Es müsste jemand mit Sachverstand sein, der das System kennt, davon bin ich absolut überzeugt. Ich habe viele Bahnchefs gekannt, auch gut gemocht, muss ich ehrlich sagen – aber keiner kam vom Bahnsektor her. Das wäre doch in keiner anderen Branche möglich. Können Sie sich vorstellen, dass sie einen Branchenfremden an die Spitze eines Automobilkonzerns stellen würden? Undenkbar! Aber bei der Bahn macht man das bedenkenlos. Obschon ich sagen will, die Produktion ist komplexer als bei Volkswagen.
Warum setzt die Ampel-Regierung da kein Signal?
Die Regierung hat natürlich mit der unabhängigen Geschäftsführung auch mental die Verantwortung weggelegt, aber immer bedenkenlos Milliarden reingebuttert ins System. Und das geht einfach nicht.
Haben Sie nicht gesagt, den integralen Taktverkehr der Schweiz, den könnte man nicht auf Deutschland übertragen?
Habe ich nicht gesagt!
Was dann?
Dass die Züge sich in den Knoten kreuzen und dann der Halbstundentakt, das hat sehr viel gebracht: nämlich häufige rasche direkte Anschlüsse. Und ich habe mich gewundert, warum diese Idee, die aus Mitte der 80er-Jahre stammt, von Deutschland nie nur im Ansatz überhaupt diskutiert worden ist.
Also ein Halbstundentakt, braucht man dazu Hochgeschwindigkeit?
Nein, also sicher braucht man nicht Hochgeschwindigkeit dafür. Man muss zwischen den Knoten eine Fahrzeit haben von etwas unter einer halben Stunde oder ein Vielfaches davon, und das muss man halt optimieren. Punkt!
Das vorliegende Interview ist eine leicht bearbeitete Fassung eines Video-Interviews, das Klaus Gietinger am 14. Januar mit Benedikt Weibel geführt hatte.
Am Montag, 19. Februar ist Benedikt Weibel zu Gast im Rathaus Stuttgart. Im Rahmen einer Veranstaltung der Fraktionsgemeinschaft Die FrAktion und des Gäubahnkomittees Stuttgart hält der ehemalige Chef der Schweizerischen Bundesbahnen (SBB) einen Vortrag mit dem Titel „Die Gäubahn im transeuropäischen Eisenbahnnetz erhalten“ (19 Uhr, Großer Sitzungssaal).