rail blog 122 / Aktionsbündnis gegen Stuttgart21

DAS ABSURDE IST DIE REALITÄT

Beitrag von Arno Luik am 10 Juli auf der 666. (Jubiläums)- Montags-Demo auf dem Stuttgarter Schlossplatz[1]

Luik ist Journalist und prominenter Bahn- und S21-Kritiker, war er Chefredakteur der taz, Autor der Zeitschrift Stern. Gerade ist sein Buch „Rauhnächte“ erschienen, in dem er sich mit seiner Krebserkrankung auseinandersetzt.

Arno Luik auf der 666. Montagsdemo gegen Stuttgart 21: Er wirkt ruhiger, gelassener, versöhnlich. Fotos: Joachim E. Röttgers

Guten Abend,

liebe Stuttgarter und Stuttgarterinnen,

ich gestehe: Ich bin nicht mit dem Zug von Königsbronn nach Stuttgart gefahren. Ich gestehe: Ich hatte und habe keine Lust darauf, mich mit dem Bus von Waiblingen in die Innenstadt zu quälen. Ich gestehe: Ich hatte auch keine große Lust, den zeitraubenden Umweg über Ulm zu machen, hatte und habe keine Lust auf die ewigen Tunnelfahrten auf dieser Neubaustrecke Ulm – Stuttgart. Ich boykottier das.

Bei mir hat die Bahn Erfolg mit ihrem Fahr-doch-lieber-Auto-Umerziehungsprogramm dank ihrer sogenannten Generalsanierung und den damit verbundenen Vollsperrungen von Hauptstrecken (etwa Waiblingen – Stuttgart).

Meine Frau ist neulich von Stuttgart nach Königsbronn gefahren, Luftlinie sind das nicht mal 70 Kilometer. Die Dauer ihrer Bahn-Tortur-Fahrt: vier Stunden. Mit dem Rad, sagte ich zu ihr, wärst du schneller gewesen.

Diese Bahn im 21. Jahrhundert: Ramponiert, ruiniert, runtergerockt von den Herren und Damen im Berliner Bahnturm, den Regierenden in diesem Land.

Ich war jetzt lange nicht mehr in Stuttgart. Es ist ein Schock, diese Innenstadt um den Bahnhof zu erleben. Ein Schock, nein Trauer, ist es aber auch, zu sehen, mit was für einer stoischen Ruhe und unfassbaren Duldsamkeit die Bürger dieser Stadt, die Pendler diesen Wahnsinn erdulden, ertragen – und das seit viel zu vielen Jahren für noch viel zu viele Jahre.

Danke Deutsche Bahn für diesen Horror! Danke für diese Zumutungen! Mir kommt es manchmal vor, als ob hier in Stuttgart ein gigantisches Psycho-Menschen-Experiment abläuft: Was kann man mit Menschen alles anstellen! Was machen sie alles mit!

Viel zu viel, sage ich.

Danke dafür auch an Winfried Hermann! Den manche hier noch liebevoll „Winne“ nennen. Danke auch Winfried Kretschmann.

Neulich habe ich in einer Zeitung, die jahrelang (wie fast alle Medien) heftigst für S21 kämpfte, die Nürtinger Zeitung, diese Zeile gelesen: „Beim Großprojekt Stuttgart 21 bleiben die Menschen auf der Strecke!“

Mehr ist im Grunde nicht zu sagen.

Ja, der Mensch bleibt bei S21 auf der Strecke. Er wird in den Tunneln zur Rohrpost degradiert; er wird durch zusätzlichen Lärm an den Strecken gequält, das kriegen die Menschen etwa mit in Unter/Oberboihingen, dort, wo die zweite große Kurve gebaut wird – die die Bahnstrecke nach Tübingen mit der Neubaustrecke zwischen dem Flughafen und Ulm verbindet.

Die Menschen dort, die überwiegend bei der sogenannnten Volksabstimmung für S21 votiert haben, werden jetzt höllisch bestraft: Der Parkplatz vor der Haustüre fällt oft weg, nicht so schlimm, schlimmer: ihnen wird Licht und Ausblick weggenommen, der deutlich höhere Bahnverkehr sorgt für Lärm ohne Ende, die Lärmschutzwände, die kaum etwas bringen sind unerträglich hässlich, Balkone verschwinden hinter Lärmschutzfenster, der Mensch wird von Luft und Licht weggesperrt, ja, das Leben, der Mensch bleibt bei dieser Strecke auf der Strecke.

Ein genervter Bewohner aus Oberboihingen schrieb mir vor ein paar Tagen: „Lieber Herr Luik, was bei uns und mit uns passiert: In Ihrem Bahnbuch wäre das ein neues Kapitel wert!“

Das ist die Bahn im 21. Jahrhundert! Rücksichtslos, skrupellos nicht nur hier in Stuttgart gegen die Bürger, die Reisenden – konsqeunt unverschämt gegenüber den wahren Besitzern dieser Bahn: dem Bürger. Gegenüber uns. Ja, diese Bahn, obwohl sie macht, was sie will, sie gehört uns: die Bahn ist ein Volkseigener Betrieb! Und sie ist, so heißt es im Grundgesetz, auch für das Allgemeinwohl zuständig – von diesem Auftrag hat sich diese Deutsche Bahn AG schon längst verabschiedet. Eine politische Frechheit.

Und hier in Stuttgart, Welthauptstadt des Autobaus, buddeln und schaffen sie wild, aber auch beispielhaft daran, diese Bahn noch weiter kaputt zu machen. Da es dabei um viele Tunnel geht, grüße ich die Zerstörer des Gemeinwohls mit dem Bergarbeiter-Gruß: Glück auf! Bei Eurem unseligen Machwerk.

Nein.

Ich will nun nicht weiter auf den Unfug Bahn eingehen, das mache ich nachher noch ein wenig im Rathaus, sondern ganz kurz auf den herrschenden Irrsinn – in mir, auf der Welt.

Im Spätsommer vergangenen Jahres bekam ich, und es haute mich aus den Schuhen (bei einer Routineuntersuchung), die Diagnose: Darmkrebs. In meinem ganzen Arbeitsleben hatte ich keinen einzigen Tag wegen Krankheit gefehlt – und nun dies. Der erste Gedanke: Scheiße!

Von einer Sekunde auf die andere, so empfand ich es, ging eine Schranke runter zwischen mir und der „normalen“ Welt. Geht sie wieder hoch? Ich hoffe es.

Ich hoffe es seit Monaten, und ich habe mich dafür einem Regime unterworfen, das mein Leben, meinen Alltag, einfach alles und das rund um die Uhr bestimmt: eine Abfolge von Untersuchungen, von Besprechungen, Bestrahlungen, Chemotherapie, Operation, und aktuell: nochmals eine Chemotherapie.

Ob es gut ausgeht mit mir? Ich weiß es noch nicht. Ich lebe nach dem Prinzip Hoffnung.

Nun noch eine Zahl, die den alltäglichen Irrsinn dokumentiert, die zeigt, dass in diesem Land etwas verrutscht, etwas aus dem Ruder gelaufen ist und läuft und läuft und läuft.

Diese Zahl lautet: Zwei Millionen 240 000.

Das ist Jahresgehalt und der Bonus, den Bahnchef Richard Lutz im vergangenen Jahr erhalten hat,  gut zwei Millionen Euro. Das ist das fast Siebenfache des Verdienstes von Kanzler Olaf Scholz – und Lutz, daran muss man nun unbedingt erinnern, ist bloß ein Angestellter eines staatlichen Unternehmens. Sein üppiger Verdienst wird also von uns Steuerzahlern finanziert. Warum bloß, für was eigentlich bekommt dieser DB-Chef seine so überaus opulente Vergütung – immerhin gut 6.000 Euro pro Tag? Für was? Sind die Züge pünktlich? Nein. Sie sind so unpünktlich wie noch nie. Macht der DB-Aktienkonzern Gewinn ohne Ende? Nein. Er ist faktisch pleite.

Als Richard Lutz sein Amt 2017 übernahm war der DB-Konzern mit 27 Milliarden Euro verschuldet. Heute ist diese Bahn, die Tag für Tag oft Hundertausende von Kunden enttäuscht, nervt und quält mit gut 35 Milliarden Euro in den Miesen. Tag für Tag häuft dieses Unternehmen, das es immer weniger schafft, einen Bahnbetrieb aufrecht zu erhalten, der für eine Industrienation so selbstverständlich wie notwendig sein sollte, fünf Milionen Euro Schulden auf, Tag für Tag. Spendiert aber dem dafür Verantwortlichen einen Bonus in Millionenhöhe. Wie wirkt so etwas in den Köpfen jener Bahnangestellten, die zwei, drei Monate arbeiten müssen, um auf den Tagesverdienst ihres Chefs zu kommen?

2.240000 Euro für den Bahnchef, an dem die Bürger keine Freude haben können.

Ich nenne noch eine andere Zahl: 146.000.

146. 000: Um diese Zahl nahm vergangenes Jahr in Deutschland die Zahl der armutsgefährdeten Kinder und Jugendliche zu – auf insgesamt über drei Millionen, ein Fünftel der unter 18-Jährigen in Deutschland.

Zunehmende Armut für Milionen, aber Millionen Gehälter für Manager, die Milliarden veschleudern.

Nicht zu verstehen, kaum auszuhalten, das alles. In mir wächst das Gefühl: Das Absurde ist die Realität.

Trotz alledem: Kopf hoch, oben bleiben!

DANKE!


[1] Weitere Beiträge :

Myoungeun Lee, Eco Peace Asia, Südkorea, Grußwort

Timo Brunke, Poet und Wortkünstler: „Vor allen Dingen: Merklingen – Verse aus dem Tunnel“

Prof. Dr. Heiner Monheim, Stadtplaner und Verkehrsexperte

Musik: Lenkungskreis Jazz

Moderation: Dr.med Dipl.-Psych. Angelika Linckh

Video: https://youtu.be/5e7bciu8vOY


„Lust aufs Oben bleiben!“

Lesung mit Arno Luik: „Rauhnäche“. Eine politische Soiree

Sonntag, 16. Juli, Glockenkelter, Stetten, 17 Uhr

Über Werner Sauerborn

Dr. rer. soc. *1949, Geschäftsführer des Aktionsbündnis gegen Stuttgart21, dort Vertreter der „Gewerkschafter*innen gegen Stuttgart 21“. Zuvor wiss. Mitarbeiter FU Berlin, Otto-Suhr-Institut, Forschung zur Privatisierung Öffentlicher Dienstleistungen, Gewerkschaftssekretär bei ötv bzw. ver.di im Bereich Politik und Planung

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