rail blog 133 / Heiner Monheim

Die Planungsrelevanz von Geschwindigkeitsfragen bei der Reisezeitoptimierung

Tempowahn der Entscheidungsträger auf allen Ebenen

In der Verkehrspolitik und Planung spielen Fragen der Geschwindigkeit eine zentrale Rolle. Dabei fixieren sich technikverliebte und wenig systemorientierte Entscheidungsträger gern auf die jeweils mit einem Verkehrsmittel erzielbare Höchstgeschwindigkeit. Daraus resultiert im Fernverkehr die Begeisterung für Hochgeschwindigkeitszüge und – Strecken. Und im Nahverkehr dominiert bei vielen geschwindigkeitsfixierten Entscheidungsträgern die Begeisterung für schnelle U-Bahnen und Stadtbahnen. In den projektbezogenen Kosten-Nutzenanalysen wird suggeriert, dass durch die hohen Geschwindigkeiten sehr viel Zeit eingespart werden könne. „Time is Money“, lautet die Devise. Doch das paradoxe Ergebnis ist, dass wir trotz immer schnellerer Verkehrsmittel immer mehr Zeit im Verkehr verbrauchen. Wir kommen nicht wirklich früher an, wir sparen keine Zeit. Denn im bundesweiten Durchschnitt aller Fahrten und Wege brauchen wir Jahr um Jahr mehr Zeit für unsere Mobilität.

Der Teufelskreis von Beschleunigung, räumlicher Konzentration und Rückzug aus der Fläche

Die Grundproblematik ist der Konflikt zwischen schneller Fahrt einerseits und guter Erschließung andererseits. Das Ziel schnelle Fahrt verteuert auf der Fahrzeugseite die Kosten wegen der mit der Geschwindigkeit wachsenden Anforderungen an die Sicherheit und damit Steifigkeit der Fahrzeuge. Sie werden immer schwerer. leistungsstärker und größer. Und das hohe Tempo verteuert auch die Kosten für die Fahrwege, denn alle Trassierungsparameter (Radien, Steigungen und Neigungen, Querschnitte, Festigkeit des Fahrweges) wachsen mit der Geschwindigkeit. Die Trasse muss dann frei von Hindernissen bleiben und gegen störende Einflüsse von außen abgeschirmt werden.

Korridoreffekt hoher ÖPNV-Geschwindigkeiten

Diese Zusammenhang gilt zunächst für die Straße und die Schiene. Aber bei der Schiene wird der Teufelskreis besonders stark wirksam. Im Innerortsverkehr hat er beim Wechsel der noch relativ langsamen „guten alten Straßenbahn“ zur immer schnelleren U-Bahn oder Stadtbahn zur starken Netzausdünnung geführt. Denn die schnellen Trassen sind immer schwerer städtebaulich integrierbar. Deswegen neigt dann die Planung dazu, solche Trassen lieber gleich unter die Erde zu verlegen. Dadurch explodieren aber die Kosten für solche Trassen. Und daraus resultiert dann, dass man sich keine dichten Netze mehr leisten kann. Aus weit verzweigten alten Straßenbahnnetzen werden dann reine Korridornetze. Dieser Prozess ist in fast allen deutschen Straßenbahnstädten in der Netzgenese ablesbar. Aus großen, weit verzweigten Netzen werden kleine Rumpfnetze mit wenigen Achsen.

Korridoreffekt hoher Fernbahngeschwindigkeiten

Und im Fernverkehr zwingt die hohe Geschwindigkeit zu einer immer weniger landschaftsintegrierten Trassierung. Der Anteil von Tunneln und Brücken wird immer größer. Dadurch explodieren erst Recht die Trassenkosten. Daraus resultiert für die Fernbahn, dass die Netzdichte immer mehr abnimmt. Es gibt immer mehr Oberzentren ohne Fernbahnanschluss mit dem ICE und ganz viele Miteilzentren haben jeden Fernbahnanschluss verloren, weil der Interregio IR der Hochgeschwindigkeitsbahn geopfert wurde. Aus der Flächenbahn früherer Jahrzehnte wurde so immer mehr eine „kleine, feine“ Korridorbahn.

Hohe Folgekosten hoher Geschwindigkeiten

Für die Betriebskosten sind die hohen Geschwindigkeiten extrem negativ, weil sich die Physik ja nicht betrügen lässt. Hohes Tempo bedeutet eine schnelle Steigerung des spezifischen Energieverbrauchs je gefahrenem Kilometer. Und hohes Tempo bedeutet einen viel stärkeren Verschleiß der Fahrzeuge und der Fahrwege. Und hohes Tempo bedeutet auch eine schnelle Steigerung der Lärmemissionen. Dadurch entstehen zusätzliche hohe Kosten für die nötige Lärmabschirmung. Im bebauten Gelände resultieren daraus schnell so große Akzeptanzprobleme längs der geplanten Trassen, dass daraus immer mehr zusätzliche Forderungen nach Tunnelstrecken resultieren. Das kann man gerade beim Netzausbau im Oberrheintal und im Inntal verfolgen.

Unterschied von Höchstgeschwindigkeit und Systemgeschwindigkeit

Nun muss man die Frage sinnvoller Geschwindigkeiten über die genannten Aspekte hinaus vor allem systemisch betrachten. Da spielt für die Attraktivität und den Markterfolg die Netzdichte und Haltestellendichte eine zentrale Rolle. Je schneller gefahren werden soll, desto störender sind alle Zwischenhalte unterwegs. Wer seltener hält, erreicht damit eine geringere Erschließungswirkung. Dieser Teufelskreis bestimmt seit Jahrzehnten den Niedergang des öffentlichen Verkehrs und der Güterbahn. Werner Brög von der Münchener Firma Socialdata war der erste, der diesen fatalen Zusammenhang mit der ersten KONTIV-Erhebung (heute heißt sie MiD) für den Innerortsbereich empirisch gesichert hat. Auf der Basis der damals erhobenen Mobilitätsprotokolle konnte er zeigen, dass der Anteil der Tür-Tür-Reisezeit, die im ÖPNV-Fahrzeug selbst verbracht wird, nur bei knapp 60 % liegt, der Rest wird für die Zu- und Abgangswege sowie die Wartezeiten und Umsteigezeiten an der Haltestelle verbraucht. Wer Tür-Tür-Reisezeiten minimieren will und in diesem Sinn den ÖPNV schnell machen will, muss also nicht primär schnelle U-Bahntunnel bauen, sondern dichtere Netze mit viel mehr Haltestellen und dichtere Takte anbieten. Nur so werden die Zeitverluste beim Zu- und Abgang und beim Umsteigen minimiert. Daraus folgt das von Bürgerbahn und Klimabahn verfolgte Postulat: „Takt vor Tempo“ und „Fläche vor Korridor“. Gegen diese beiden Grundsätze erfolgreichen öffentlichen Verkehrs wird seit nunmehr 60 Jahren immer mehr verstoßen. Die Netzdichten im Fernverkehr und im Nahverkehr hat sich zunehmend verringert, dadurch ist die Systemgeschwindigkeit des öffentlichen Verkehrs immer schlechter geworden. Und das, obwohl die Fahrzeuge immer schneller wurden und die Neu- und Ausbaustrecken für immer höheres Tempo ertüchtigt wurden. Trotzdem oder gerade deswegen hat der öffentliche Verkehr kontinuierlich seine „metrische“ Kundennähe verloren. Das hat ihn in der Konkurrenz mit dem Autoverkehr immer mehr zum Verlierer gemacht. Wo weit und breite kein öffentliches Verkehrsangebot mehr „nahe liegt“, gilt das Auto als unentbehrlich, alternativlos und wird maximal genutzt. Das ist der heutige Alltag in vielen ländlichen Regionen und vielen Klein- und Mittelstädten.

Expandierende Netzdichte im Straßennetz

Dramatisch wurde dieser Prozess durch den fortschreitenden Straßennetzausbau auf allen Hierarchieebenen. Im System der autoorientierten Verkehrspolitik gab es nie Rationalisierungs- und Sparprogramme: Alles war auf Netzausbau und Netzverdichtung konzentriert. Im Bundesverkehrswegeplan wimmelt es von Straßenbauprojekten und auch die Landes- und Kreisstraßennetze wurden permanent ausgebaut, in der Netzlänge und in den Netzstandards für die Querschnitte und Entwurfsgeschwindigkeiten. Dagegen ist die Netzdichte im Öffentlichen Verkehr immer weiter geschrumpft, aus der „Flächenbahn“ wurde durch immer mehr Stilllegungen die „Schrumpfbahn“ mit ihrem stark verkürzten Rumpfnetz. Das war besonders fatal für die Konkurrenzfähigkeit der Güterbahn. Ihre Präsenz in der Fläche und damit ihre Kundennähe der wurde massiv beschädigt. Mit dem Ergebnis einer Explosion des Lkw-Verkehrs auf der Straße.

Am größten ist die Netzdichte der Erschließungsstraßen, deren Netze immer mit der expandierenden Siedlungsentwicklung („Zersiedlung“) wachsen mussten. Sie müssen wegen des autofixierten Bau- und Verkehrsrechts praktisch überall „bis vor die Haustüre“ führen, damit jedes bebaute Grundstück erschlossen wird. Deswegen das extreme Wachstum der Gemeindestraßen. Bei ihrer Planung spielen allerdings die hohen Geschwindigkeiten keine zentrale Rolle, sie werden in der Regel für moderate Geschwindigkeiten von max. 50 km/h ausgebaut. Mittlerweile liegen die meisten Erschließungsstraßen in Tempo-30-Zonen.

Aber um so mehr dominiert das Ziel von „Hochgeschwindigkeitsstraßen“ beim Autobahnausbau. Sie sollen eine maximale, möglichst nicht limitierte Geschwindigkeit garantieren. Daraus resultieren dann die typischen Folgeprobleme für die schlechte landschaftliche und städtebauliche Integrierbarkeit von Autobahnen, die immer mehr hinter hohen Lärmschutzwänden versteckt werden müssen oder immer öfter unter die Erde verlegt werden müssen. Wegen der hohen Kosten erreichen die Autobahnen trotz aller Neu- und Ausbauprojekte eine begrenzte Netzdichte. Aber eine Netzhierarchie tiefer sorgen die anderen klassifizierten Straßennetze der Bundes-, Landes- und Kreisstraßen für eine weitergehende Verankerung der klassifizierten Straßen in der Fläche. Diese Netzentwicklung wurde seit Bestehen der Bundesrepublik perfektioniert mit gestuften Ausbaustandards, die im Laufe der Jahrzehnte für die klassifizierten Straßen immer geschwindigkeitsfixierter geworden sind.

Geschwindikeitsexplosion der Autoflotte und Tabu der Tempolimits

Parallel dazu wurden die fahrzeugtechnisch erreichbaren Geschwindigkeiten immer höher. In den 50er Jahren war bei vielen Pkw schon bei 80 km/h Schluss. Mittlerweile haben sich die konstruktionsbedingten typischen Geschwindigkeitspotenziale mehr als verdoppelt. Dadurch kam das Thema Tempolimit immer wieder auf die Agenda, weil auch die Physik des Autofahrens unerbittlich ist: schneller bedeutet immer gefährlicher, verbrauchsintensiver, lauter und in Verbindung mit dem Straßenbau immer flächenverbrauchender und immer schlechter landschaftlich und städtebaulich integrierbar. Trotz dieser verheerenden physikalischen Logik blieben Tempolimits in Deutschland weiter tabu.

Hohes Tempo kostet Leistungsfähigkeit

Dabei reduzieren hohe Geschwindigkeiten die Leistungsfähigkeit der Straßen, weil dann die Harmonisierung der Abläufe immer schwieriger wird und der Verkehrsfluss durch Raserei immer mehr gehemmt wird. Viele „Staus aus dem Nichts“ resultieren aus ungebremster Raserei. Abgesehen davon wachsen mit der Geschwindigkeit die Unfallrisiken und die Unfallschwere, was dann ein weiterer Grund für die vielen Staus ist.

Ein ähnlicher Zusammenhang besteht auch für die Schiene. Auch hier reduzieren die Hochgeschwindigkeitszüge die Netzleistungsfähigkeit, weil sie die langsameren RB-Züge, RE-Züge, früher auch IR-Züge und heute ganz besonders Güterzüge ausbremsen. Eine Harmonisierung der Geschwindigkeiten auf mittlerem Geschwindigkeitsniveau dagegen sichert die höchste Streckenleistungsfähigkeit. Natürlich gehören zu einem leistungsfähigen Bahnsystem dann auch viele Weichen, Kreuzungsstellen und Überholgleise und eine moderne Leit- und Sicherungstechnik. Und wie bei der Autobahn mit ihren inzwischen oft sechs- und achtspurigen Abschnitten in Ballungsraumregionen braucht auch die Bahn auf hochbelasteten Strecken einen viergleisigen Ausbau.

Strategische Folgerungen für den öffentlichen Verkehr und die Bahnentwicklung

Angesichts dieser Diskrepanz muss sich vor dem Hintergrund der Verkehrswende mit ihren umwelt- und klimapolitischen Herausforderungen die Strategie für den öffentlichen Verkehr und Bahnverkehr grundlegend ändern. Die Kundennähe und die Kapazität muss auf allen Netzebenen massiv gesteigert werden, wenn Busse und Bahnen große Teile des heutigen Autoverkehrs ersetzen sollen. Und das müssen sie! Das geht nur durch einen engagierten Netzausbau auf allen Maßstabsebenen.

Offensive Angebotsstrategien im lokalen Busverkehr

Im Ortsverkehr müssen viel mehr feinerschließende Bussysteme etabliert werden, in kommunaler Aufgabenträgerschaft. Alle Baugebiete brauchen einen Anschluss an die Netze von Quartiers-, Orts- und Stadtbussystemen. Die mit angepassten Busformaten operieren, also beim Quartiers- und Ortsbus mit wendigen Mini- und Midiformaten, beim Stadtbus mit Midi- und Standardformaten. Die Maxiformate der Großraumgelenkbusse sind als Sonderformate nur für den Einsatz im Schülerverkehr und auf stark frequentierten Hauptachsen der Bussysteme sinnvoll.

Vom „Massenverkehr“ zum „Flächenverkehr“

Die Fixierung auf den negativ besetzten Begriff „Massenverkehr“ für den öffentlichen Verkehr ist maßgeblich daran schuld, dass die Netz- und Systemplaner nur noch in Kategorien von Hauptachsen und Bündelung denken und die ganze Feinverteilung kampflos dem Auto überlassen. Verkehrswende darf sich nicht nur auf die großen Strome und Massen beschränken, sie muss auch mit keinen Fahrzeugformaten und kleinen Netzen arbeiten, um die Dominanz des Autoverkehrs zu brechen.

Renaissance der Straßenbahn mit Boom neuer Netze

Ähnliche Logiken sind für die Zukunft des kommunalen Schienenverkehrs mit Straßenbahnen maßgeblich. Auch hier muss die Netzdichte durch viele Neubauprojekte nach französischem Vorbild massiv gesteigert werden. Alle Großstädte und viele Mittelstädte brauchen eigene, lokale Straßenbahnsysteme. Deswegen ist ein Renaissance der Straßenbahn zwingend erforderlich. Und zwar ohne die typischen Stadtbahnstandards und Tunnelstrecken sondern als städtebaulich gut integriertes Oberflächenverkehrsmittel, das überall signaltechnisch priorisiert wird und auf breiten Hauptverkehrsstraßen mit eigenen Rasengleisfahrspuren städtebaulich optimal integriert wird. Die Straßenbahn hält wie früher zur Minimierung der Zu- und Abgangswege alle 400-500 m und fährt zur Minimierung der Wartezeiten und Umsteigezeiten im dichten 10 Minuten-Takt. Die ursprünglich oft radial angelegten Netze brauchen ausreichend tangentiale und ringförmige Verbindungen und die Netze müssen an den Rändern der kompakten Kernstädte als Überlandstraßenbahnen weiter in die zentralörtlichen Verflechtungsbereiche ausgedehnt werden. Dafür kann immer noch das Karlsruher Modell Pate stehen mit seinen Nachfolgeprojekten wie bei der Regiotram in Kassel, der Saarbahn rund um Saarbrücken und der Bahnen rund um Chemnitz und Zwickau. Ob und wie viel für solche Netze noch bestehende Eisenbahnstrecken mit benutzt werden können, muss jeweils geklärt werden und erfordert in jedem Fall viel flexiblere und polyvalentere Bau- und Betriebsordnungen und Fahrzeugkonzepte.

Nötiger Boom bei kleinen S-Bahnsystemen

Für den größeren Aktionsradius der regionalen Verflechtungen sind moderne S-Bahnsysteme gefragt, Aber der S-Bahnausbau bleibt bislang viel zu sehr auf die großen Metropolen fixiert. Auch keine Großstädte und die meisten Mittelzentren brauchen eigene S-Bahnsysteme. Mit anderen Maßstäben für die Fahrzeuge und Fahrwege unterhalb der bislang bekannten Dimensionen bisheriger S-Bahnsysteme. Mit mittleren und kleinen Fahrzeugformaten. Mit reduzierten technischen Standards für die Fahrwege und Stationen. In den 1980er Jahren wurde ich noch für verrückt erklärt, als ich für Deutschland 250 S-Bahnsysteme gefordert habe. Mittlerweile beweisen die Breisgau-S-Bahn im Freiburger Umland oder die Ruhrtalbahn rund um Düren oder die Euregio-Bahn rund um Aachen, dass solche Systeme sinnvoll sind und sehr erfolgreich den Verkehrsmarkt aufrollen können. Auch hier gilt, dass die Zukunft nicht in immer neuen Tunnelprojekten sondern im schnellen Netzausbau auf der Oberfläche liegt.

Schluss mit der „Tunnelitis“

Abschreckendes Beispiel für die Tunnelmanie ist die zweite Stammstrecke der Münchener S-Bahn, deren absurde Konzeption nun mit explodierenden Kosten und Bauzeiten bestraft wird, während die von der Stadt München und der Mehrheit der ÖPNV-Experten favorisierte einfache und kostengünstige und schnelle machbare Alternative eines tunnelfreien S-Bahnrings auf vorhandenen Gleisen nach Berliner Vorbild von den Tunnelfetischisten in der Landesregierung und bei der DB AG ignoriert wurde.

Die Zukunft der S-bahn liegt in vielen neuen Systemen, die gut in die Oberfläche, die Landschaft und die Baustrukturen integriert werden und als Wesensmerkmal mit vielen neuen Haltepunkte für die nötige Kundennähe sorgen. Wo immer möglich, nutzen sie vorhandene und ggf. zu reaktivierende Bahnstrecken und ansonsten brauchen sie einen engagierten Netzneu- und Ausbau.

Restrukturierung der RB und RE-Netze

Die Arbeitsteilung zwischen den künftigen Tram- und S-Bahnnetzen und den bestehenden RB und RE Netzen muss neu justiert werden. Auch bei den RB- und RE-Netzen ist ein massiver Netzausbau erforderlich. Im RB-Bereich müssen für den ländlichen Raum und die vielen anstehenden Streckenreaktivierungen angepasste Fahrzeugformate eingesetzt werden, die gegenüber den heute dominierenden Triebwagenkonzepten bewusst kleiner, leichter und weniger Tempo-orientiert konzipiert werden. Vorbild ist der alte Schienenbus, aber natürlich auf der Elektrobasis mal batterie-elektrisch oder auch oberleitungsbasiert. Und nach Möglichkeit in Niederflurtechnik, um die Fahrweg- und Bahnsteigkosten zu minimieren. Oder als Sonderlösung für den Einsatz in hochflurigen und niederflurigen Teilnetzen mit polyvalenten Formaten für Fahrzeugboden und Türen, die auf verschiedene Bahnsteigformate passen.

Neujustierung der Aktionsradien

Im Zuge der Netzoffensive sind auch die Aktionsradien neu zu bestimmen, weil sehr lange Laufwege die Verspätungsprobleme aufsummieren und wirtschaftliche Taktverkehre und häufiges Anhalten erschweren. In einem dezentralen Bahnkonzept gibt es viele kleine Netze, die sich an den verkehrlichen Verflechtungen der Oberzentren und Mittelzentren orientieren. S-Bahnlinien mit über 80 km Linienlänge sind dann wenig sinnvoll. Für solche Distanzen sind dann eher die RE- und IR-Systeme zuständig.

Renaissance und Ausbau des IR -Systems

Genau für die über die jeweiligen Zentralitäts- und Verschuldungsgrenzen hinausreichende Mobilität über mittlere Distanzen wurde ja seit den 1980er Jahren in Deutschland der Interregio IR entwickelt und zunächst sehr erfolgreich im Verkehrsmarkt etabliert. Er bediente ideal die mittleren Reiseweiten und schloss viele Mittelzentren an das Fernbahnnetz an. Die meisten europäischen Nachbarländer haben attraktive IR-Systeme, besonders vorbildlich natürlich die Schweiz. Der leider von Anfang an bedauerliche Systemfehler des IR war die unzureichende Taktdichte, die mit einem Zweistundensystem natürlich nicht ausreichend war, um große Teile des damaligen Autoverkehrs zu substituieren. Selbst der später auf einzelnen Strecken eingeführte Stundentakt reicht nicht, um wirklich erfolgreich mit der Straße konkurrieren zu können. Und der zweite Systemfehler war die immer noch zu geringe Netzdichte. Um alle Mittelzentren und Oberzentren miteinander zu verbinden, braucht ein neuer IR aufgrund der polyzentrischen Raumstruktur in Deutschland ein etwa doppelt so langes bzw. dichtes Netz. Und das dann befahren in einem Halbstundentakt, als Basis des Fernverkehrs über mittlere Reiseweiten. So kann der IR eine deutlich größere Nachfrage binden als der IC und ICE, weil ja in der Mobilität die sehr langen Wege weit seltener sind als die Mittleren Reiseweiten.

Kronzeugen für die Erfolgspotenziale einer solchen Angebotsstrategie

Für die riesigen Erfolgspotenziale einer auf Kundennähe und Verlustzeitminimierung abgestellten Angebotsstrategie gibt es auf allen Maßstabsebenen sehr gute Kronzeugen als Erfolgsbeispiele.

Vorbild innovative Orts- und Stadbussysteme sowie Dorf- und Quartiersbussysteme

Im Ortsverkehr haben die leider bislang viel zu wenigen innovativen Orts- und Stadtbussysteme bewiesen, dass man Fahrgastzahlen durch hohe Kundennähe und große Taktdichte vervielfachen kann und auch Menschen mit jederzeitiger Autoverfügbarkeit locker in solche Bussysteme locken kann. Die Fahrgastzahlen konnten teilweise verzehnfacht oder gar verzwanzigfacht werden, weil die Zahl der Haltestellen gegenüber den früheren, rudimentären Systemen um Faktoren zwischen 5 und 10 gesteigert wurden und die Takte auf 15, 20 oder maximal 30 Minuten verdichtet wurden. Vorbild für diese Angebotsstrategien waren die Orts- und Stadtbusse in der Schweiz, in Österreich und in Südtirol. Ähnliche Entwicklungen wurden mit neuen Quartiers- und Dorfbussystemen erreicht, die noch mal die Kundennähe potenziert haben. Entscheidend für die Akzeptanz ist auch die Psychologie einer guten lokalen Verwurzelung der Systeme durch ein gutes lokales Marketing.

Innovative S-Bahnsysteme und Regionalbahnsysteme

Sehr ähnlich verliefen die Erfolgsgeschichten bei neuen S-Bahnsystemen, die mit ihren vielen neuen Haltepunkten und dichten Takten die Fahrgastzahlen gegenüber den vorherigen alten Bahnangeboten ebenfalls vervielfachen konnten. Bei den Metropolen-S-Bahnen konnte man das sowieso erwarten. Dass aber auch in kleinen Großstädten und Mittelstädten ähnlich Erfolge möglich sind, bewiesen dann das Karlsruher Modell auf seinen Strecken nach Bad-Herrenalb, Bretten, Baden-Baden und Heilbronn. Auf einigen Strecken konnten so die Fahrgastzahlen gegenüber der alten, taktlosen und kundenfernen Bahnbedienung verachtfacht werden. Andere Beispiele sind die Ruhrtalbahn als ländliches S-Bahnsystem zwischen Heimbach, Düren, Linnich, Jülich und Euskirchen. Auch hier gab es massive Fahrgastgewinne.

Erfolgsmodell IR

Und auf der mittleren Fernverkehrsebene bewies der alte IR mit seinen im Spitzenjahr 68 Mio. Fahrgästen, dass ein gutes Angebot für die am Fernverkehrsmarkt wichtigsten mittleren Distanzen sehr viel erfolgreicher operieren, als der damals mit hohen Investitionen protegierte ICE. Wenn er eben nicht alle Mittelzentren links liegen lässt, sondern sie gut in das Feinbahnnetz integriert.

Fazit: Kundennähe und Systemzeitminimierung durch Taktverkehre als Erfolgsrezept

Kundennähe auf allen Ebenen und klarer, dichter Taktverkehr sind also die strategisch wichtigsten Erfolgsgaranten. Daran müsste die Verkehrspolitik von Bund, Ländern, Kreisen und Kommunen ihre Investitionsprioritäten ausrichten. Dann wäre auch in Deutschland eine Verkehrswende möglich. Noch geschieht das Gegenteil. Die Bahn verfolgt weiter eine reine Korridorphilosophie und setzt weiter auf Hochgeschwindigkeit. Die Länder opponieren nicht gegen diese einseitige Investitionspriorität. Und die Kreise und Kommunen verweigern weiterhin den Ausbau feinerschließender Bussysteme. So werden die umwelt- und klimapolitischen Hausaufgaben krass verfehlt und weiter die Tunnelmafia mit milliardenschweren Unsinnsprojekten bedient. Offenbar ist die raumstrukturell eigentlich verankerte deutsche Dezentralität anders als in der Schweiz mit ihren kantonalen und kommunalen Schwerpunktsetzungen politisch trotz des föderalen Staatsaufbaus in Deutschland verkehrspolitisch nicht ausreichend verankert, um das Korridor- und Hochgeschwindigkeitsdenken und die Rückzugsstrategien im öffentlichen Verkehr zu brechen.

Über Prof. Dr. Heiner Monheim

(*1946), Geograf, Verkehrs- und Stadtplaner, seit den 1960er Jahren befasst mit den Themen Flächenbahn, Schienenreaktivierungen, Erhalt des IR, S-Bahnausbau und kleine S-Bahnsysteme, Stadt- Umland-Bahnen, neue Haltepunkte, Güter-Regionalbahnen, Bahnreform 2.0, Kritik der Großprojekte der Hochgeschwindigkeit und Bahnhofsspekulation. Details: www.heinermonheim.de

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Ein Kommentar zu “rail blog 133 / Heiner Monheim”

  1. Natürlich darf der ländliche Raum nicht vernachlässigt werden. Aber es ist kein sinnvoller Weg den ICE mit mehr Halten langsamer zu machen. Wir haben im Fernverkehr ja eben nicht nur den ICE, sondern auch den IC. Der ICE ist dazu da die großen Metropolen schnell zu verbinden und vor allem klimaschädliche Flugrouten obsolet zu machen, deswegen ja auch der Name Intercity EXPRESS. Man muss sich nur mal die Auslastung unserer ICEs heute anschauen um zu erkennen, dass dieses Modell bisher auf jeden Fall nicht verkehrt war.
    Und den IC haben wir eben, um mehr Städte in der Fläche anzubinden, z. B. hält der IC Karlsruhe-Nürnberg in Städten wie Mühlacker, Vaihingen Enz, Aalen und Ansbach. Oder der Fernzug München-Prag in Freising, Landshut, Schwandorf und Furth im Wald.
    Deswegen bitte die Fernverkehre voneinander trennen: ICE ist dazu da die großen Metropolen schnell zu verbinden, der IC und IR ist dazu da mehr Kleinstädte und Oberzentren zu bedienen. Und wir brauchen beides in einer vernünftigen Taktdichte und Anschlüssen in Knotenbahnhöfen.

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