rail blog 136 / Joachim Holstein

»We will always have Paris«

(Rick Blaine [Humphrey Bogart] zu Ilsa Lund [Ingrid Bergman] in »Casablanca«)

Vor 15 Jahren starteten Beschäftigte der DB European Railservice GmbH (DB ERS) die erste massive Kampagne zur Rettung der Nachtzüge: Im Dezember 2008 wurde der Nachtzug von Hamburg nach Paris via Bremen, Dortmund und Brüssel eingestellt. Wir setzten uns unter dem Motto »Wir wollen nach Paris und nicht an die Börse« erst für seine Rettung und dann für seine Wiederkehr ein. Ab Dezember 2010 gab es wieder eine Nachtverbindung Hamburg-Paris, allerdings über Mannheim und Saarbrücken oder Strasbourg. Und die stand für Dezember 2014 genau wie die Schwesterzüge aus Berlin und München auf der Streichliste, nachdem fünf Wochen zuvor schon der Nachtzug von Kopenhagen nach Süden gestrichen worden war, was große Proteste zur Folge hatte.

Einige Kolleginnen und Kollegen hatten sich Fahrkarten für diese letzte Fahrt gekauft, um an den Unterwegsbahnhöfen Flashmobs durchzuführen und in Paris mit den französischen Aktiven gemeinsam zu protestieren. Nachstehend meine Reden vor der Abfahrt in Hamburg-Altona und vor der Abfahrt in Paris.

Wenn Sie von Altona nach Paris wollen, dann können Sie hier an Gleis 9 in den Nachtzug seigen und direkt bis Paris fahren: Sie steigen morgens in Sichtweite vom Eiffelturm aus – ausgeschlafen, geduscht, mit Frühstück, und der Tag liegt vor Ihnen. Das kostet ab 49 Euro, ist superbequem, geht aber nur noch heute, denn in einer halben Stunde soll der Zug zum letzten Mal fahren.

Ab morgen bietet die Bahn nach Paris nur noch Tageszüge an: da sitzen sie acht Stunden lang im ICE und TGV, müssen ein oder zwei Male umsteigen, natürlich mit vollem Gepäck und in der Hoffnung, dass Ihr Anschluss klappt. Und wenn Sie ankommen, ist der Tag gelaufen.

Drei Viertel der Nachtzugreisenden haben bei einer Umfrage der Bahn erklärt, dass sie sowas nicht machen würden, sondern den Flieger, den Bus oder das Auto nehmen oder überhaupt nicht verreisen würden.

Also eine schallende Ohrfeige für die Bahnchefs, und eigentlich müsste jedes Unternehmen sagen: Wir überlegen uns das noch mal, der Kunde hat Recht, und wir wollen auf diese Kunden nicht verzichten. Insbesondere ein staatliches Unternehmen müsste das sagen, denn es fährt ja in öffentlichem Auftrag und nicht um Profit zu machen!

Im Grundgesetz steht seit 20 Jahren die klare Verpflichtung, dass der Bund nicht nur beim Bau von Strecken und Bahnhöfen, sondern auch beim Verkehrsangebot auf dem Schienennetz den Verkehrsbedürfnissen der Allgemeinheit Rechnung tragen muss. Da steht also nicht, dass Immobilienkonzerne bei der Verlegung des Bahnhofs in Stuttgart Millionenprofite machen müssen – übrigens auch nicht in Altona –, und da steht nicht drin, dass jeder einzelne Zug schwarze Zahlen schreiben muss, egal wie man rechnet.

Aber leider rechnen die Bahnchefs so lange, bis selbst gut besetzte Züge rote Zahlen schreiben. Das eine Zauberwort sind »Overheadkosten«, also der Wasserkopf und die Büropaläste. Da sind die Zahlen geradezu explodiert! Das andere Zauberwort sind »Serviceentgelte«, das muss ich ein bisschen erklären: Nachtzüge bestehen nämlich nicht nur aus Schlaf- und Liegewagen, sondern auch aus Sitzwagen. Und manche haben sogenannte Pendlerwagen dabei, in die man ohne Reservierung einsteigen kann, das gibt es von hier bis nach Hannover und Nürnberg. Anderswo geht das von München bis Stuttgart und von Duisburg bis Basel. Auf die Art kommt man spät abends oder mitten in der Nacht noch nach Hause oder morgens zur Arbeit.

Der Witz an der Geschichte: diese Pendlerwagen in den Nachtzügen haben eine eigene Zugnummer und gelten als Intercity! Und prompt hat die DB beschlossen, diese Reisenden nicht als Nachtzugreisende zu zählen, dabei sind das 1,2 Millionen im Jahr! Wenn die DB also wieder mal in der Presse verbreitet, die Nachtzüge hätten im letzten Jahr nur noch 1,4 Millionen Fahrgäste gehabt, dann wissen Sie jetzt: die Zahl stimmt nicht, es sind fast doppelt so viele, nämlich über zweieinhalb Millionen!

Übrigens sind diese Zahlen in den letzten Jahren gestiegen, auch hier behauptet ja die Bahn was anderes.

Aber nicht nur Reisende werden bei dieser Öffentlichkeitsarbeit der Bahn unterschlagen, sondern auch Gelder: Meine Kollegen und ich, wir werden nämlich dafür bezahlt, auch die Reisenden in den Pendlerwagen nach ihrer Fahrkarte zu fragen und ihnen bei Bedarf auch eine zu verkaufen. Für diese Dienstleistung überweist die Konzernmutter der Konzerntochter Geld – jedenfalls hat sie das jahrelang getan. Nun tut sie das plötzlich nicht mehr und entzieht dem System Nachtzug also Geld. Wir reden hier von mehr als fünf Millionen Euro pro Jahr. Und anschließend stellt sich die Konzernmutter hin und sagt: »Der Zug schreibt rote Zahlen, der Zug muss weg!«

Man merkt die Absicht, und man ist verstimmt. Mehr noch – man ist empört, denn Sie als Reisende werden aus einem bequemen Verkehrsmittel vertrieben, und wir als Beschäftigte verlieren womöglich unseren Arbeitsplatz. Übermorgen sollen mit dem Fahrplanwechsel alle einhundert Dortmunder Kollegen von den Zügen genommen werden, und ihren Job verlieren! Und man hat uns ziemlich deutlich signalisiert, dass in spätestens drei Jahren Hamburg dran ist, dann geht es hier auch um rund einhundert Arbeitsplätze!

Deswegen setzen wir Bahner uns für den Fortbestand der Nachtzüge ein, und wir rufen Sie auf: tun auch Sie etwas für den Erhalt der Nachtzüge! Sprechen Sie mit Abgeordneten! Es ist gerade Wahlkampf, also gibt’s da viele Gelegenheiten. Wenden Sie sich an den Bundestag! Der Verkehrsausschuss wird am 14. Januar auf Antrag der Linken und der Grünen eine Anhörung zu Nachtzügen durchführen. Fragen Sie die Abgeordneten über abgeordnetenwatch.de, ob sie sich für den Erhalt der Nachtzüge einsetzen! Schreiben Sie Leserbriefe oder Forenkommentare, schreiben Sie an die Bahn – und, ganz wichtig: fahren Sie weiterhin Bahn und vor allem Nachtzug, je öfter desto besser!

Die Rede am folgenden Abend in Paris vor Abfahrt des letzten Nachtzuges nach Deutschland:

Bonsoir Paris!

Liebe Kollegen, liebe Freunde und sehr geehrte Fahrgäste,

in etwa einer Stunde fährt der Nachtzug nach Berlin, Hamburg und München ab. Nach dem Willen der Bahnchefs ist das die letzte Abfahrt dieses Zuges. Ab morgen wird es keine Nachtzüge mehr zwischen unseren Ländern geben, und dann gibt es auch keine andere Direktverbindung mehr zwischen Paris und den beiden größten deutschen Städten, Berlin und Hamburg

Was für ein Blödsinn, was für eine Schande!

Wieso hat die DB entschieden, den Nachtzug nach Paris einzustellen?

Die offizielle Version lautet, dass der Zug defizitär ist und dass die Fahrkarteneinnahmen nicht ausreichen, um die Kosten zu decken. Die DB jammert über die hohen Trassenpreise in Frankreich, und der Präsident der SNCF Guillaume Pepy beklagt den Betriebsablauf des Zuges in Deutschland, wo komplizierte Rangiermanöver oft Verspätungen provozieren.

Jeder gibt dem anderen die Schuld – es wäre aber nötig zusammenzuarbeiten, anstatt Ausreden zu suchen, um einen Zug kaputtzumachen!

Auf unseren T-Shirts könnt ihr lesen »Kaputtrechnen gilt nicht«. Die DB hat sich nämlich viele Tricks einfallen lassen, um ein Minus in der Bilanz der Nachtzüge präsentieren zu können. Zum Beispiel hat sie über fünf Millionen an jährlichen Einnahmen »vergessen« und hat die Overheadkosten auf eine absurde Höhe aufgebläht.

Am 24. September haben wir vor dem Bahntower in Berlin demonstriert und dem Bahnvorstand mehr als 14.000 Unterschriften von Reisenden übergeben mit der Forderung, die Nachtzüge und die Autozüge zu retten. Diese Unterschriften sind von unserer Bahner-Initiative und von einer deutsch-französischen Gruppe gesammelt worden, die am selben Tag hier an der Gare de l’Est eine Aktion gemacht hat mit dem Slogan »Rendez-moi mon train« – »Gebt mir meinen Zug wieder«.

Gestern haben wir in Berlin, Hamburg, Hannover und Göttingen vor und in den Bahnhöfen demonstriert, und die Hinfahrt im Zug war eine rollende Demonstration.

Heute haben wir uns mit Aktivisten aus Gewerkschaften und Umweltverbänden und auch mit Politikern getroffen, um unsere Kräfte zu vereinen und die Zusammenarbeit zu vertiefen.

Und jetzt bitten wir Sie, bei der Rettung der Nachtzüge mitzuhelfen: schreiben Sie an Ihre Bundestagsabgeordneten, an Verkehrsminister Alexander Dobrindt, an Bahnchef Rüdiger Grube, an Ihre Abgeordneten im Europaparlament, wenden Sie sich an die Medien und fordern Sie eine öffentliche Debatte zum Thema Nachtzüge.

In Deutschland hat der Verkehrsausschuss des Bundestages eine Anhörung zum Thema Nachtzüge beschlossen, die am 14. Januar stattfindet. Die Linkspartei hat den Antrag eingebracht, einen strategischen Plan für die Nachtzüge zu entwickeln, und die Grünen unterstützen diesen Antrag. Wir müssen also nur noch die Regierungsparteien davon überzeugen…

Vor sechs Jahren, im Dezember 2008, gab es einen ersten Versuch, den Nachtzug zwischen Paris und Hamburg abzuschaffen. Die beiden Kollegen hier und ich erinnern uns an die Proteste in Hamburg und Paris – und zwei Jahre später war der Zug wieder auf der Schiene!

Wir haben diesen ersten Versuch, den Nachtzug abzuschaffen, verhindert – und wir werden auch den zweiten verhindern!

Paris ist einen Nachtzug wert – und Berlin, Hamburg und München auch!

Danke!

Die Unterbrechung dauerte dieses Mal sieben Jahre: Seit Dezember 2021 gibt es wieder einen Nachtzug, der Deutschland – konkret: München – mit Paris verbindet. Er kommt aus Wien und wird von den Österreichischen Bundesbahnen betrieben. Ab Dezember 2023 wollen die ÖBB einen Nachtzug zwischen Paris und Berlin auf die Reise schicken. Fehlt nur noch Hamburg …

Über Joachim Holstein

(*1960) arbeitete von 1996 bis 2017 als Steward in Nacht- und Autozügen der DB, war von 2006 bis zur Einstellung dieser Verkehre Betriebsrat der DB European Railservice GmbH und zuletzt Sprecher des Wirtschaftsausschusses. Mitbegründer der Initiative zur Rettung des Nachtzuges Hamburg-Paris (2008; »Wir wollen nach Paris und nicht an die Börse«) und des europäischen Netzwerks für Nachtzüge »Back on Track« (2015; https://back-on-track.eu/de/); Weiteres unter www.nachtzug-bleibt.eu

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