rail blog 145 / Heiner Monheim

Renaissance der Bahnhöfe?

Zwischen Spekulations-Großprojekten und offensiver Flächenbahn

I          Die glorreiche Bahnhofsgeschichte

Bahnhöfe als Ankerpunkte und Knoten aller Verkehrsnetze

Bahnhöfe waren in der deutschen Gründerzeit der Bahnen die wichtigsten Ankerpunkte im Verkehrssystem. Sie sicherten den Zugang ins Bahnsystem. Und weil des Bahnsystem in seiner Blütezeit als Flächenbahn im ganzen Land Präsenz zeigte und auch der ländliche Raum durch die Bahn mit vielen Bahnhöfen gut erschlossen war, war die Bahn überall Garant für Mobilität von Personen und Gütern.

Bahnhöfe als Motoren der Siedlungsentwicklung

Die Entwicklung des Schienennetzes und seiner Bahnhöfe determinierte damals die Siedlungsentwicklung. Die neu gebauten Schienenstrecken fanden ihren Platz meist am Rand der bestehenden Orte. Dort initiierten sie einen Bauboom, durch den neue Bahnhofsviertel entstanden. Die damals rasante Siedlungsentwicklung („Gründerzeit“) folgte oft dem Verlauf der Schienenstrecken. Erreichbarkeit durch die Schiene wurde zum wichtigen Standortfaktor für die Investoren.

Bahnhöfe bedienten Personen- und Güterverkehr

Der Bahnhöfe hatten eine wichtige Bedeutung für den Personenverkehr und den Güterverkehr mit kleinvolumigen Stückgut-, Post- und Paketpartien sowie mit großvolumigen Gütern und Massengütern, die in der Umgebung produziert wurden oder die für die Vorprodukte der Produktion gebraucht wurden. In den Großstädten gab es meist mehrere Güterbahnhöfe. Aber auch in den kleineren Bahnhöfen war das Gütergeschäft ein wichtiger Faktor für die Bahnhofsgestaltung.

Großer Platzbedarf

Zu den Bahnhöfen gehörte eine angemessene technische Ausstattung mit großen Kohlebunkern, Wasserbehältern und einem verzweigten Gleissystem für die vielen Rangierfahrten. Hinzu kamen die nötigen Lokschuppen, Drehscheiben, Güterschuppen mit ihren Güterrampen sowie Abstellflächen und Hallen für Waggons. Größere Bahnhöfe waren umgeben von Eisenbahnersiedlungen, denn die Bahn hatte damals viel Personal. Eine Beschäftigung bei der Bahn war nicht nur eine kurze Tätigkeit in einer Lebensphase, sondern für die meisten Beschäftigten eine lebenslange Aufgabe, die sich oft sogar auch in die nächste Generation(en) fortpflanzte.

Der Bahnhof als Serviceknoten

Weil es in der Gründerzeit noch keine dichten Taktverkehre gab, dauerte der Aufenthalt der Fahrgäste an den Bahnhöfen beim Zu- und Abgang und beim Umsteigen oft lange. Für die sinnvolle Nutzung dieser Wartezeiten gab es Wartesäle und ein gastronomisches Angebot. Hinzu kamen kleine Handelsangebote für den Reisendenbedarf in Gestalt von Zeitungen und Zeitschriften, Obst, Süßigkeiten und kleinen Speisen. Viele Bahnhöfe hatten eine eigene Gepäckabfertigung, denn das damalige Reisen war oft mit viel Gepäck verbunden. Dafür gab es auch spezielle Gepäckträger und für den Transport größerer Gepäckmengen Pferdefuhrwerke, die Vorläufer der späteren bahnamtlichen Rollfuhr.

Der Bahnhof als „Herberge“ und Standort für Hotels

Weil für den damaligen Bahnbetrieb auch sehr viel „fahrendes Personal“ nötig war, hatten größere Bahnhöfe viele Nebenräume, um dieses Personal über Tag und mehr noch über Nacht unterzubringen. Und für den Übernachtungsbedarf der Fahrgäste siedelten sich am Bahnhof Hotels an.  

Der Bahnhof als logistischer Knoten

In größeren Städten hatte traditionell auch das Paket- und Postamt am Bahnhof seinen Standort, weil Post und Pakete vorzugsweise mit der Bahn transportiert wurden. In Großstädten lag dann auch noch das Telegraphenamt am Bahnhof, weil parallel zu den Gleisen an den Masten die Telegraphenleitungen verliefen.

Der Bahnhof als prominente Architekturaufgabe

Aufgrund dieser Agglomeration wichtiger öffentlicher und privater Einrichtungen waren in der Gründerzeit die Bahnhofsviertel besonders großzügig und repräsentativ gestaltet. Es gab einen starken Regionalismus in der Bahnhofsarchitektur, je nach Landschaft mit regionalspezifischen „Bauserien“ im Stil des damaligen Historismus. Führende Architekten bekamen prominente Aufträge für den Entwurf entsprechender Bauserien. Große Bahnhöfe wurden jeweils individuell entworfen. Ihre Architektur und die Gestaltung der Bahnhofsplätze mit den typischen Denkmälern der Landesherren symbolisierten den Stolz der damaligen „Landesherren“ und Bahngesellschaften (es gab ja so etwas wie regionale „Landesbahnen“) auf ihre Bahnen. Wichtige Bahnhöfe hatten große Empfangshallen mit den vielen verschiedenen Schaltern. Die Bahnsteige wurden von hohen Eisen- und Glasgewölben überdeckt.  Am größten waren die Knotenbahnhöfe und Kopfbahnhöfe mit besonders vielen Gleisen, wie man heute noch an den gut erhaltenen Hauptbahnhöfen in Leipzig oder Frankfurt sehen kann .

II         Niedergang der Bahnhöfe

Kriegszerstörung und schlichter, autogerechter Wiederaufbau

Viele Bahnhöfe wurden als wichtiges Ziel der alliierten Bombardierungen des 2. Weltkriegs ganz oder teilweise zerstört. Danach stand der notdürftige Wiederaufbau im Vordergrund. Die ersten Neubauten folgten der bescheidenen Logik des nüchternen Funktionalismus. Repräsentation war nicht mehr gefragt.

In den Großstädten vollzog sich bald eine negative Entwicklung der Bahnhofsviertel. Sexkinos machten sich breit. Hochwertiger Handel wurde vom Ramsch verdrängt: Aus früheren Grandhotels wurden billige „Absteigen“.  Man umlagerte die Bahnhöfe mit Parkplätzen und Parkhäusern, selbst die Bahnhofsplätze degenerierten oft zu Parkplätzen. Die am Bahnhof entlangführenden Straßen wurden autogerecht ausgebaut.

Beginn der Tunnelitis

In den 1970er Jahren hatte der Autoverkehr so stark zugenommen, dass in immer mehr Großstädten der öffentliche Verkehr mit zunächst Straßenbahnen, später dann Stadtbahnen und U-Bahnen in den Innenstädten und im Bahnhofsumfeld unter die Erde verlegt werden sollte. Dafür wurden die Bahnhöfe in die „Unterwelt“ erweitert, mit neuen Tiefgeschossen und Labyrinthen von Zu- und Abgängen. Durch die teilweise sogar mehrgeschossigen Untergeschosse verlängerten sich die Zu- und Abgangswege erheblich. Was durch die Tunnelstrecken scheinbar an Reisezeit eingespart wurde, ging beim langdauernden Zu- und Abgang leicht wieder verloren. Wegen der extrem hohen Kosten für die Tunnels wurden die Haltestellenabstände der unterirdischen Systeme gegenüber den ebenerdigen Systemen erheblich vergrößert. Damit wurde die Kundennähe erheblich verschlechtert. Ebenerdig zu Fuß konnte man solche autoumtosten und unterirdischen Bahnhöfe immer schlechter erreichen. Und für eine schöne Platzgestaltung blieb wenig Raum.

Leerstand, Schließung und Verkauf vieler Bahnhöfe

Mit der Zunahme der Rationalisierungsstrategien in der Bahnpolitik begann der langdauernde Rückzugsprozess der Bahn aus der Fläche. Immer mehr Strecken wurden stillgelegt, und damit verloren auch immer mehr daran gelegene Bahnhöfe ihre alte Funktion. Es war ein schleichender Prozess mit fatalen Wirkungen für die Konkurrenzfähigkeit der Bahn im Personen- und Güterverkehr. Erst wurden die Schalter geschlossen und das Personal durch Automaten ersetzt. Dann wurden die Toiletten geschlossen. Die Gastronomie und Kioske wurden aufgegeben. Vandalismus machte sich breit. Fenster wurden vernagelt.

Parallel zog sich auch die Güterbahn aus der Fläche zurück. Erst wurde die Stückgutannahme geschlossen und der „Tarifpunkt“ aufgegeben. Dann folgten die Güterschuppen und Rangieranlagen. Die Bahn ließ die Lokschuppen und Drehscheiben verfallen, sie legte viele Gütergleise und Weichen still. In vielen kleinen Orten gibt es heute zwar noch eine Bahnhofstraße, aber keinen Bahnhof mehr.

Die Bahn versuchte, möglichst viele Bahnhofsgebäude und Bahnflächen immobilienwirtschaftlich zu verwerten. Parallel zu den Privatisierungs- und Börsenplänen verlagerte sich ihr Interesse immer weiter weg von der Kernaufgabe offensiver Schienenverkehrsgestaltung hin zu regressiver Immobilienverwertung.

III       Bescheidener Neuanfang

„Dutzendware“ S-Bahn-Halt

Von diesem grundlegenden Negativtrend gab es eine partielle Ausnahme im Zusammenhang mit dem seit den 1970er Jahren begonnenen Ausbau neuer S-Bahn-Systeme. Nach dem überkommenen Vorbild der Berliner und Hamburger S-Bahnen sollten nun einige Metropolen moderne S-Bahn-Systeme bekommen. Damit sollte der SPNV in den Ballungsräumen attraktiver gemacht werden. Zu modernen S-Bahnen gehörten neben den neuen S-Bahn-Fahrzeugen neue Haltepunkte, die das System der Zugangsstellen stark verdichteten. Anders als in der Gründerzeit wurden diese neuen Bahnhöfe aber nicht mehr mit stattlichen Bahnhofsgebäuden ausgestattet. Der eigentlich sehr positive Ausbau dieser S-Bahn-Systeme erfolgte in rein funktionalistischer Bescheidenheit, egal ob unter oder über der Erde. Sie hatten lange Bahnsteige mit simplen und kurzen Flachdächern.  Unter der Erde wurden sie meist mit grellen Farben verkachelt und erhielten Treppen, Rolltreppen und Aufzüge für die langen Zu- und Abgangswege. Wegen des erfreulich hohen Passagieraufkommens der S-Bahnen an ihren Knoten gab es in den unterirdischen Labyrinthen meist ein breites Angebot von Kiosken und teilweise auch Läden. Spielraum für regionale oder lokale Besonderheiten in der Architektur, wie sie die alten S-Bahnen in Berlin und Hamburg auszeichneten, blieb da kaum. Die Gestaltung produzierte bescheidene Dutzendware aus Systemelementen. An besondere Aufenthaltsqualität für angemessenen Wartekomfort wurde selten gedacht.

Schlimm war, dass die S-Bahn-Dynamik bald ins Stocken geriet. Längst nicht alle Großstädte besitzen eigene S-Bahn-Systeme. Und für den ländlichen Raum hatte die Bahn überhaupt keine S-Bahn-Konzepte. Hier war der Schienenverkehr weiter auf Rückzug ausgerichtet. Dabei beweisen die wenigen diesem Mainstream trotzenden kleinen S-Bahn-Systeme wie die Breisgau-S-Bahn oder die Rurtalbahn, dass das Erfolgsrezept „oft halten und dichten Takt fahren“  auch im ländlichen Raum den SPNV sehr erfolgreich machen kann.

Der „I-Punkt“ als Bankrotterklärung

Nach der Bahnreform wurde vom neuen Bahnvorstand ein schüchterner Anlauf beim Bahnhofsthema gemacht. Der sogenannte „I-Punkt“ wurde erfunden, bestehend aus wenigen Standardelementen mit einem Betonkubus, einem kleinen Glas-Unterstand und einer roten Betonsäule, alles im kubistischen Stil gehalten. Immerhin, damit wurde wenigstens symbolisiert, dass es auch für kleine ländliche Haltepunkte unter Umständen eine Zukunft geben könnte.

Aber von der Formenvielfalt und Serviceorientierung früherer kleiner Bahnhöfe im ländlichen Raum war da nichts mehr zu erkennen. Insofern war der I-Punkt vor dem Hintergrund der früher glorreichen Bahnkultur und Bahnhofsarchitektur eine endgültige Bankrotterklärung. Er symbolisierte das verbreitete Desinteresse von Bahnvorstand, Aufsichtsrat, aber auch Eigentümer an einer verkehrlichen Offensivstrategie für die Bahn.

Reaktivierungen als Chance für eine neue Generation guter Bahnhöfe

Mittlerweile ist die Phase immer weiterer Streckenstilllegungen zu Ende gegangen. Bund und Länder und DB setzen das Thema „Reaktivierung stillgelegter Strecken“ endlich auf die verkehrspolitische Agenda. In einigen Bundesländern sind bereits seit den 1980er Jahren erste erfolgreiche Reaktivierungen gelaufen, so der „Haller Willem“ zwischen Bielefeld und Osnabrück oder die Rurtalbahn zwischen Düren, Heimbach, Jülich, Linnich und Euskirchen.  Auch Baden-Württemberg forciert jetzt die Reaktivierung. Die Größenordnung relevanter Projekte schwankt zwischen etwa 230 (Allianz pro Schiene und VDV) und 400 (Bürgerbahn). Bislang dominiert bei den Diskussionen um Reaktivierungen die Frage der Schienentechnik (Stellwerke, Bahnübergangssicherung). Fragen der Bahnhofsgestaltung bei Reaktivierungen werden noch wenig diskutiert. Dabei bietet diese Größenordnung Anlass, anstelle der bisherigen minimalistischen Standardlösungen sich auf die alte Bahngeschichte zu besinnen und alte, verlotterte, aufgelassene Bahnhöfe zu neuem Glanz zu erwecken. Und da, wo wegen der jüngeren Siedungsentwicklung neue Bahnhöfe sinnvoll sind, müssen anspruchsvolle kreative Gestaltungslösungen gefunden werden. Dies auch vor dem Hintergrund, dass dort moderne, intermodale Verknüpfung ermöglicht werden sollen.   

IV       Die Bahn als „Immobilien-Hai“

Die neue immobilienwirtschaftliche Spekulationsstrategie

Seit der Bahnreform verlagerte sich das Interesse des Bahnmanagements immer mehr auf die Immobilienwirtschaft. Die Bahn besaß mit ihren Personen- und Güterbahnhöfen noch riesige Liegenschaften in zentralen Lagen. Um die Güterbahnhöfe immobilienwirtschaftlich zu nutzen, musste man erst mal die alten Funktionen „platt machen“. So geschah das mit vielen Güterbahnhöfen. Der angeblich unabwendbare Rückzug der Güterbahn aus der Fläche und die Konzentration auf wenige Giga-Güterbahnhöfe wie z.B. Köln Eifeltor schien die alten, dezentralen Güterbahnhöfe entbehrlich zu machen. Die Bahn versuchte, diese Flächen den Kommunen oder privaten Investoren für neue, profitablere Nutzungen anzudienen. Das konnte teilweise wegen der relativ zentralen Lage der alten Güterbahnhöfe neue Impulse für die jeweilige Stadtentwicklung bringen, mit hochverdichtetem Wohnungs- und Gewerbebau. Typische Beispiele dafür waren der Mediapark in Köln oder der alte Güterbahnhof in Düsseldorf.  Ähnliche Projekte gibt es mittlerweile in vielen Großstädten. Was dabei aber viel zu kurz kommt, ist die Zukunftsperspektive für eine wieder expandierende, moderne Güterbahn, die für die moderne City-Logistik die alten Standorte ertüchtigen kann, als schienenbasierte Sammelpunkte für innenstadtbezogene, hochwertige Güter, die heute immer noch mit schlecht ausgelasteten Groß-Lkw das innerstädtische Straßennetz heillos verstopfen. 

Das Drama der 21er-Projekte

Eine etwas andere Strategie hat die Bahn unter dem damaligen Bahnchef Dürr mit den sogenannten 21er-Projekten eingeleitet. Hier ging es nicht um das Schließen der alten Hauptbahnhöfe, sondern um deren Verlagerung unter die Erde, um dadurch oben Flächen für Spekulationsprojekte zu gewinnen. Besonders viel Fläche boten die großen Kopf- oder Sackbahnhöfe wie Stuttgart, Frankfurt und München. Und selbst der denkmalgeschützte kleine Kopfbahnhof Lindau  sollte immobilienwirtschaftlich verwertet und von der Altstadtinsel nach Reutin verlegt werden. Bei den großen 21er Projekten sollte oben unter Nutzung der vielen Zulaufgleise Platz für die immobilienwirtschaftliche Maximalverwertung gemacht werden.

Die Filetgrundstücke der Bahn in zentraler Lage schienen den wenig mit strategischen Bahnnetzfragen vertrauten Bahnvorständen und Aufsichtsräten zu wertvoll für die reine Bahnfunktion. Die Verheißung war, die Bahnhöfe und ihre Zulaufstrecken mit milliardenschweren Tunnelprojekten zu verknüpfen. Allerdings fielen die damit erzielbaren Grundstückserlöse weit geringer aus als erhofft, weil zur gleichen Zeit auch die Flächen der Militärkonversion und Industriekonversion den Immobilienmarkt fluteten. Und die leichte Machbarkeit riesiger Tunnelprojekte erwies sich als viel schwerer als gedacht, sie war ein teurer, zeitraubender Mythos. Trotzdem hielt die Bahn an ihrer immobiliengetriebenen Bahnhofsstrategie fest. In Stuttgart wurde das Projekt mit massiver Protektion des Landes, der Stadt, der Region, des Flughafens, der DB und der Bundesregierung als „angebliches Leuchtturmprojekt moderner Ingenieurskunst“ durchgepeitscht. Massiver Widerstand der Bevölkerung gegen die Zerstörung des Baudenkmals Bonatzbau und von Teilen des alten Baumbestandes im angrenzenden Park konnte des Projekt nicht verhindern. Auch die massive Kritik an den Kapazitätsproblemen und Baumängeln führte zwar zu der medienwirksamen sog. „Schlichtung“, endete aber mit der kaum veränderten Fortsetzung des alten Projektes. Auch die geplante Schieflage der Bahnsteige und der unzureichende Brandschutz im extrem langen Tunnelsystem brachte keinen Baustopp. Mittlerweile sind die Kosten und Bauzeiten –wie von Kritikern vorhergesagt – voll aus dem Ruder gelaufen, und 40 km zusätzliche Ergänzungstunnel sollen die schlimmsten Fehler heilen.  

Grenzen der Unterwelt

Es erweist sich also wieder mal als unmöglich, unterirdisch Bahnkultur und Bahnhofsarchitektur angemessen zu verwirklichen und angemessene Reiseerlebnisse zu bieten. Große Hallen bringt man da nicht unter. Und großzügige Weite über viele Bahnsteige kann man schlecht bauen. Da helfen auch nicht die Licht-Kelche, die der Architekt aus schlechtem Gewissen über die Grenze der Unterwelt konzipiert hat, um wenigstens noch etwas Kontakt nach oben zum Tageslicht zu bieten. Schlimmer ist, dass in den beengten Tunnelröhren die für den Deutschlandtakt notwendige Gleiskapazität nicht realisiert werden kann. Unterirdische Tunnel-Großbahnhöfe können nie die künftigen Bahnentwicklungen mit stark steigendem Bahnverkehr angemessen bedienen. Sie führen im wahrsten Wortsinn „in die Falle“ harter, beengter Betonunterwelten.

Weitere Tunnelmanieprojekte

Doch die Lernkurve deutscher Bahnpolitik ist weiter miserabel. Mittlerweile sind neue Tiefbahnhofs- und Bahnhofsverlagerungsprojekte in Vorbereitung, so mit der Verlegung des Bahnhofs Hamburg-Altona nach Diebsteich oder mit der Planung von Fernbahntunneln unter dem Frankfurter Hauptbahnhof. Und auch bei der zweiten Stammstrecke der Münchener S-Bahn unter der Münchener Innenstadt erweist sich die Tunnelmanie der Bahnplaner als desaströs hinsichtlich der Kostenexplosion und der Bauzeitverzögerung um mehr als 10 Jahre. Jedes Mal werden oberirdische Alternativen ignoriert, um im Wettbewerb der Projekte jeweils maximale Investitionssummen in das jeweilige Bundesland und die jeweilige Stadt zu holen, womit auf lange Zeiten ein Großteil der Bahninvestitionen durch solche Großprojekte monopolisiert wird.

V         Alternativstrategien für die Bahn der Zukunft 

Mehrpolige Bahnhofssysteme

In der Historie der großen Bahnhöfe hat es immer schon bei differenzierten Bahnnetzen mit Zulaufstrecken aus mehreren Richtungen mehrpolige Bahnhofssysteme gegeben. Vor dem eigentlichen Hauptknoten „Hbf“ liegen sekundäre Bahnknoten wie in München der Ostbahnhof und Pasing, in Hamburg die Bahnhöfe Altona, Dammtor und Harburg, in Köln der Bahnhof Köln-Deutz, in Frankfurt die Bahnhöfe Süd und West und im besonderen Fall Berlin gibt es um den neu gebauten Hbf herum die Bahnhöfe Wannsee, Charlottenburg, Zoo, Friedrichstraße, Alexanderplatz, Ostbahnhof, Ostkreuz, Lichtenberg, Gesundbrunnen, Südkreuz und Spandau. Solche Sekundärknoten, die vom Nahverkehr und Fernverkehr bedient werden, können die Kapazitätsprobleme der Hautbahnhöfe mildern, die sich nicht nur aus fehlender Gleiskapazität, sondern auch aus der Beengtheit der Bahnsteige für massenhaften Andrang ergeben. Dieser Massenandrang resultiert fast immer mehr aus dem Nahverkehr und weniger aus dem Fernverkehr. Insoweit bietet die räumliche Entzerrung bei gleichzeitiger Aufwertung der sekundären Bahnknoten zu städtebaulich und funktional ebenbürtigen Knoten eine wichtige Zukunftsoption.

Ausbau vieler neuer S-Bahn-Systeme und neuer Bahnhöfe in der Fläche

Der zweite Schwerpunkt zukünftiger Bahnhofsentwicklung muss bei den Bahnhöfen in der Fläche liegen. Dabei ist zweierlei zu beachten: Erstens braucht das deutsche Bahnnetz dringend eine Renaissance des Interregio – nun aber im Rahmen des Deutschlandtaktes mit deutlich mehr Linien und dichterem Takt, also durchweg auch im Halbstundentakt. Alle Oberzentren und Mittelzentren brauchen Anschluss an das IR-System. Dadurch werden viele Bahnhöfe, die bislang wegen des Abbaus früherer Fernbahnbedienung nur noch als nachrangige Nahverkehrsbahnhöfe betrachtet werden, wieder aufgewertet und erhalten ihre volle Bahnhofsfunktion zurück. Sie rechtfertigt neuerliche Investitionen in die Architektur, das Bahnhofsumfeld, die Bahnhofsplätze und die Verknüpfung mit dem sonstigen ÖPNV, insbesondere mit Straßenbahnen und Bussen. Und zweitens macht die Rückkehr zur Flächenbahn den Neubau vieler zusätzlicher Bahnhöfe erforderlich, sei es im Rahmen neuer, ländlicher und klein- und mittelstädtischer S-Bahn-Systeme, sei es im Rahmen zusätzlicher Bahnhöfe in den Systemen der Regionalbahnen und Regionalexpresse. Und natürlich erfordert  die Renaissance der Güterbahnen im regionalen Kontext auch zusätzliche Investitionen in moderne Logistiksysteme mit den dazugehörigen Gebäuden und Gleisanlagen. Statt also die ohnehin viel zu knappen Bahnhofsinvestitionen in wenigen Spekulationsprojekten mit zweifelhaftem verkehrlichem und städtebaulichem Nutzen zu versenken, müssen die Bahnhofsinvestitionen viel breiter verteilt werden in Hunderte von sinnvollen Bahnhofsprojekten, die sich wieder an die alte, glorreiche Bahnkultur anlehnen und eine wichtigen Beitrag zur Verkehrswende und Klimapolitik leisten.

Fazit: Neuanfang für die Renaissance der Bahnhöfe

Insoweit steckt in dem Slogan „Renaissance der Bahnhöfe“ Potenzial für eine sinnvolle Kurskorrektur der deutschen Bahnpolitik weg von den Großprojekten der Korridor- und Hochgeschwindigkeitsbahn hin zu den vielen mittleren und kleinen Bahnhofsprojekten einer Flächenbahn – und hin zu einem endgültigen Stopp der Spekulations-Tunnel-Projekte mit ihrer fatalen Monopolisierungswirkung, Kostenexplosion und Endlosschleife immer neuer teurer Nachbesserungen.

Über Prof. Dr. Heiner Monheim

(*1946), Geograf, Verkehrs- und Stadtplaner, seit den 1960er Jahren befasst mit den Themen Flächenbahn, Schienenreaktivierungen, Erhalt des IR, S-Bahnausbau und kleine S-Bahnsysteme, Stadt- Umland-Bahnen, neue Haltepunkte, Güter-Regionalbahnen, Bahnreform 2.0, Kritik der Großprojekte der Hochgeschwindigkeit und Bahnhofsspekulation. Details: www.heinermonheim.de

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