rail blog 198 / Joachim Holstein

Tour durchs Ländle, zweite Etappe

Die Straßenbahnfahrt von Stuttgart-Feuerbach in die Innenstadt ist teilweise auch eine Fahrt auf alten Spuren, denn ich bin in Heilbronn aufgewachsen und hatte das Glück, 1977 den Wiederaufstieg des VfB Stuttgart in die Bundesliga im passenden Fußballfan-Alter zu erleben und – extremes Glück – eine der 72.000 Karten für das erste Spiel gegen den FC Bayern zu ergattern, der VfB hätte damals auch 500.000 Karten verkaufen können (es soll damals Annoncen gegeben haben: »suche Sitzplatzkarte, biete Daimler«.

https://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.hansi-mueller-zum-vfb-aufstieg-1977-wir-haben-wie-im-rausch-gespielt.bfb6c106-06c2-41b2-8871-1b0cda44c7df.html

Das VfB-Trikot von damals hängt immer noch bei mir im Schrank. – Aber ich schweife ab…

Die Straßenbahn ist seitdem auf weiten Strecken zur U-Bahn geworden, macht damit dem Auto Platz und spart am Pragsattel ein paar Höhenmeter. Sie ist flott, bequem und hat ein breitgefächertes Netz. All das, was Hamburg mit seinen ruckelnden und oft im Stau stehenden Bussen fehlt.

Da mir noch Zeit bleibt, gönne ich mir eine kleine Stadtrundfahrt und genieße es, dass mein HVV-Abo als Deutschland-Ticket mir völlige Flexibilität in Stuttgart verschafft. Es geht die Weinsteige rauf nach Degerloch und von dort mit der Zahnradbahn wieder runter und für die nächsten Fotos und Videos gleich wieder rauf.

https://www.stuttgart-tourist.de/a-zahnradbahn-stuttgart

Da ich beruflich auch mit Lateinamerika zu tun habe, schicke ich Fotos und Videos mit Bezeichnungen wie »Valle Central« (zentrales Tal) und »Altiplano« (Hochebene) samt Höhenangaben (266 m bzw. 473 m) in die Anden, wo man an die Höhenangaben eine Null dranhängen würde. Aber bei der Talfahrt vom Fernsehturm mit der Linie 15 auf der Pischekstraße runter in den Talkessel merkt man genau wie zuvor bei der Bergfahrt, was Trams leisten können und welch positiven Eindruck es macht, wenn das Verkehrsmittel im Straßenquerschnitt zu sehen ist, anstatt nur über einen Abstieg in den Untergrund erreichbar zu sein.

Auch in Heilbronn hat ja die Stadtbahn, die von Karlsruhe aus herüberfährt, für ein neues »Innenstadt-Feeling« gesorgt. Sie darf das Zentrum zwischen Marktplatz und Kilianskirche befahren, genau wie Busse und Taxen (andere Kfz müssen draußen bleiben), und beim alljährlichen Weindorf rund ums Rathaus liegen keine 10 Meter zwischen Haltestelle und den ersten Stehtischen und Fässern mit trinkenden, plaudernden und feiernden Menschen. Ein halbes Dutzend Personen mit Absperrbändern reicht, um rechtzeitig vor Annäherung der Bahnen oder der Busse die Trasse kurz abzusperren und Unfälle zu verhindern, in den Minuten dazwischen würde auf den ersten Blick gar nicht auffallen, dass hier Schienenfahrzeuge verkehren. Und selbst abends, wenn viele Leute eine »hohe einstellige Anzahl« an Zehnteles-Gläsern geleert haben, geht alles extrem risikoarm, sicher und sauber zu. Wenn ich da an Hamburger U- und S-Bahn-Stationen bei Großveranstaltungen denke, egal ob Landungsbrücken, Sternschanze, Stellingen oder St. Pauli (von S-Reeperbahn ganz zu schweigen), dann fällt die Bilanz klar zugunsten der Tram aus.

Über Joachim Holstein

(*1960) arbeitete von 1996 bis 2017 als Steward in Nacht- und Autozügen der DB, war von 2006 bis zur Einstellung dieser Verkehre Betriebsrat der DB European Railservice GmbH und zuletzt Sprecher des Wirtschaftsausschusses. Mitbegründer der Initiative zur Rettung des Nachtzuges Hamburg-Paris (2008; »Wir wollen nach Paris und nicht an die Börse«) und des europäischen Netzwerks für Nachtzüge »Back on Track« (2015; https://back-on-track.eu/de/); Weiteres unter www.nachtzug-bleibt.eu

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