Interrail und Nachtzug statt Hotel – Fußballfans bei der EM 2000
Jahrelang stellte die DB im Nachtzug zwischen Hamburg und Paris nur den Schlafwagen, während die SNCF Liege- und Sitzwagen sowie Personal, das normalerweise im Nahverkehr unterwegs war, beisteuerte. Von Kooperation konnte keine Rede sein, denn entgegen allen Sicherheitsvorschriften verschlossen die Franzosen morgens den Übergang von den Liegewagen zu unserem Schlafwagen, damit möglichst niemand den Weg zu unserem frisch gebrühten Kaffee finden konnte, sondern sich an dem aus Paris mitgebrachten Gebräu delektieren musste. Wir öffneten die Tür mit dem Vierkant logischerweise wieder – und dieses Katz-und-Maus-Spiel wiederholte sich ständig.
Ab dem Jahr 2000 übernahm die DB auch die Sitz- und Liegewagen und spendierte dem Zug ein aus Berlin kommendes Bistro. Die Feuertaufe folgte ziemlich schnell in Gestalt der Fußball-Europameisterschaft in den Niederlanden und Belgien, an der Schweden, Dänemark und Norwegen teilnahmen.
Der am 9. Juni in Hamburg abfahrende Nachtzug war voll mit Fußballfans, die alle morgens kurz nach sechs in Brüssel ausstiegen. Obwohl sich die mitgebrachten Biervorräte (aus Skandinavien! nach Belgien!) in den Gängen meterhoch gestapelt hatten, war die Fahrt absolut friedlich. Auf der Rückfahrt trafen wir nachts um halb zwölf in Brüssel viele Schweden wieder, die dort gerade das Eröffnungsspiel verloren hatten. Sie hatten, wie viele dänische und norwegische Fans auch, keinen Bock auf Hotelsuche beim Wanderzirkus der EM: Schweden spielte in Brüssel und zweimal in Eindhoven, Dänemark in Brügge, Rotterdam und Lüttich, Norwegen in Rotterdam, Lüttich und Arnheim. Stattdessen hatten die Fans Interrail-Tickets gekauft und fuhren nach jedem Spiel wieder zurück in die Heimat: Bis zum nächsten Spiel in drei bis fünf Tagen war ja genug Zeit, und die Atmosphäre an Bord des Nachtzuges war ein Reiseerlebnis par excellence. Zwar mussten die Skandinavier mit nur einem Sieg, zwei Unentschieden und sechs Niederlagen im Gepäck nach der Vorrunde zuhause bleiben, aber dass Nachtzüge eine 1.000 Kilometer lange Fanmeile sein können, hatten sie unter Beweis gestellt.
Angesprochen auf das Transportproblem beim noch größeren Wanderzirkus der auf 2021 verschobenen EM 2020, hatte UEFA-Präsident Michel Platini flapsig gesagt: »Es gibt doch Billigflieger!« Dass es anders gehen könnte, hatten nicht nur wir 2000 und 2006, sondern auch Russland 2017 und 2018 gezeigt, als die Eintrittskarten zum Spiel die kostenlose Nutzung von Sonderzügen zum nächsten Spielort ermöglichten.