Heinz Dürr: „Bahnsanierer“ ohne verkehrspolitische Perspektiven
Kritische Bewertung von Dürrs Leistungen für die Bahn
„Bürgerbahn- Denkfabrik für eine starke Schiene“ erinnert an den am 27.11.2023 im Alter von 90 Jahren verstorbenen, früheren Bahnchef Heinz Dürr. Es hat einige anerkennende Nachrufe auf Dürrs Leistungen für die deutsche Bahnentwicklung geben. Doch Bürgerbahn sieht Dürrs Leistung kritisch. Denn mit Dürr begann der fortschreitende Niedergang der Deutschen Bahn.
Erster Bahnchef ohne Kenntnisse des Bahnsystems mit einem Sanierungsauftrag
Schon seine Berufung 1991 in das neue Amt als „Sanierer“ durch den damaligen Bundeskanzler Kohl versprach wenig Gutes. Dürr hatte bis dahin keinerlei Erfahrung im Bahnbereich. Wie auch seine späteren Nachfolger Mehdorn und Grube wurde Dürr Bahnchef ohne eigene Bahnerfahrung. „Qualifiziert“ war er als erfolgreicher Unternehmer der Dürr AG, die Lacke für die Autoindustrie herstellte, und als Sanierer der AEG.
Schrumpfkurs als Sanierungsstrategie
Im damaligen Verständnis der Politik war die Bahn ein typischer Sanierungsfall: mit einem viel zu großen Netz und viel zu viel Personal. Also lautete die Devise „Gesundschrumpfen“. Und dafür musste man eben nicht unbedingt von Bahn, Bahntechnik, Bahnentwicklung und Bahnperspektiven Ahnung haben, sondern vom Sanieren als kostensparendem Umorganisieren des Bahnsystems, das geradewegs in einen gnadenlosen Schrumpfkurs auf ein für profitabel gehaltenes Rumpfnetz führen sollte.
Dürr als Automensch
Ich habe Dürr mehrfach persönlich getroffen. Wie auch die späteren Bahnchefs war er notorischer Dienstwagenfahrer mit seltener Bahnnutzung. Bei einem Treffen im damals in Bonn ansässigen deutschen Verkehrsforum war er nicht mit der Bahn angereist, sondern mit den protzigen Dienstwagen und einer Begleitkolonne von ca. 10 dicken „Daimlern“. Ich bin deswegen heftig mit ihm aneinandergeraten, weil er bei dieser Gelegenheit auf der historischen Poppelsdorfer Allee mit seinen 10 Staatskarossen die gerade frisch bepflanzte barocke Allee kaputt gefahren hatte. Der Hauptbahnhof war nur 5 Gehminuten entfernt. Aber deutsche Bahnchefs mieden in ihrer Rolle als Wirtschaftsbosse die Nutzung ihres Systems. Das unterschied sie von den Schweizer Bahnchefs, die ihr Bahnsysteme genau kannten und regelmäßig selber nutzten.
Dürr und die Flächenbahn
Ein Treffen mit Bahnchef Dürr fand in Berlin statt, wo damals die DB-Zentrale in einem alten Reichsbahngebäude untergebracht war. Zusammen mit Markus Hesse vom IÖW Institut für ökologische Wirtschaftsforschung und Karl-Otto Schallaböck und Ernst Ulrich von Weizsäcker vom Wuppertalinstitut für Klima, Umwelt und Energie präsentierten wir dort die Ergebnisse der sogenannten Flächenbahnstudie. Deren begleitenden Beirat hatte ich vorher moderiert. Herr Dürr misstraute mit vielen kritischen Nachfragen der expansiven Grundprämisse der Studie mit starken Zuwächsen im Personen- und Güterverkehr. Der postulierten regionalen Verankerung mit einem weit verzweigten Netz widersprach er. Die Bahn könne kein überall mit dem Autoverkehr konkurrenzfähiges System etablieren. Der Forderung, die Bahn müsse im Interesse ihres verkehrlichen Erfolges die bis dahin laufenden Stilllegungswellen beenden und statt dessen schnellstmöglich stillgelegte Strecken reaktivieren, widersprach Dürr vehement. Eine neuerliche Netzerweiterung sei nicht bezahlbar und nicht wirtschaftlich.
Dürr und Aberle als „Beschützer“ der Autowelt
Auf eine Debatte, ob denn der deutsche Straßenverkehr im Personen- und Güterverkehr wirtschaftlich betrieben werde, wofür ja dann ausreichende Einnahmen aus einer durchgängigen Maut für alle Teilnetze erforderlich wären, wollte sich Dürr nicht einlassen. Er bezog sich dabei auch auf Prof. Gerd Aberle, den wissenschaftlichen Vordenker der Bahnreform. Nach dessen Verständnis könne man das Straßennetz und den Straßenverkehr nicht mit den gleichen Maßstäben wie das Schienennetz und den Schienenverkehr regulieren. Deutschland sei eben Autoland und der Staat habe auf allen Ebenen die Aufgabe, für ausreichende Straßennetze zu sorgen und deren Finanzierung sicherzustellen. Stilllegungen von Straßennetzen kämen nicht in Frage, im Gegenteil: bei Straßen sei ein massiver Netzausbau erforderlich, angesichts des starken Wachstums des Autoverkehrs. Der Marktanteil der Bahn aber schrumpfe, sie finde keine ausreichende Marktakzeptanz im Personenverkehr und Güterverkehr, und dem müsse man das System anpassen.
Fehlende Verkehrswendeperspektive
Man sieht: Dürr, Aberle und der damaligen Politik und Verkehrswissenschaft fehlte es an der nötigen Phantasie, sich eine Bahnoffensive mit einem expandierenden Bahnsystem vorzustellen. Deswegen gab es zu Beginn der Bahnreform auch keinen integrierten Gesamtverkehrsplan für Deutschland, der die Rolle der Bahn im Konzert der öffentlichen Verkehre und die Modal-Split-Ziele und Netzziele einer modernen Bahn bestimmt hätte. Die damalige Entschuldung der Bahn und die Weitergabe des allseits noch unbeliebten Nahverkehrs an die Länder mit entsprechender Mittelausstattung sei das mögliche Maximum deutscher Bahnpolitik.
Der Verkehrsökonom Prof. Gerd Aberle hatte vorher die Konturen für ein in den politischen Mainstream einzupassendes Bahnsystem entwickelt, das nun von Dürr als Bahnvorstand umgesetzt werden sollte. Die damals viel gescholtene und angeblich total überdimensionierte alte „Beamtenbahn“ sollte verschlankt werden, im Netz und im Personal. Und der bis dahin aufgehäufte Schuldenberg sollte abgebaut werden. Die Bahn sollte abgesehen vom gemeinwirtschaftlich zu organisierenden Nahverkehr in den anderen Sparten profitabel werden. Dafür erschien dem Vorstand, dem Aufsichtsrat und der Politik eine Privatisierung über einen Börsengang der nicht gemeinwirtschaftlichen Betriebsteile Cargo und Fernverkehr und des Netzes vielversprechend. Man hatte eine ähnliche Radikalkur bei der alten „Beamtenpost“ gerade erfolgreich eingeleitet, mit der Aufspaltung von Brief- und Paketpost und der neuen Telekommunikationspost. Was man allerdings dabei nicht beachtete, war der grundlegende Unterschied zwischen einer stark von ihrer Infrastruktur abhängigen komplizierten Bahn und der demgegenüber weit weniger komplizierten Post und Telekommunikation.
Bahnreform als Organisations- und Fiskalreform und Dominanz von Immobilienaspekten
Dürrs Bahnreform erschöpfte sich in formalen juristisch-organisatorischen Regularien für die neue, aus DDR-Reichsbahn und BRD-Bundesbahn zu vereinigende Deutsche Bahn AG. Die sollte in verschiedene Sparten aufgeteilt werden, durch deren geschäftliche und operative Aufteilung viele Synergien verloren gingen.
Das Interesse der Politik und das Managements verlagerte sich auf immobilienwirtschaftliche Fragen im „Versilbern“ der riesigen Bahnliegenschaften mit dem Initiieren hochspekulativer Bahnhofsprojekte rund um die Großstadtbahnhöfe und dem Versuch, möglichst viele Bahnhöfe und Bahnflächen gewinnbringend zu verkaufen. Das waren die Geburtswehen der sogenannten „21er“ Projekte, allen voran Stuttgart 21.
Dominanz der Großprojekte und Kahlschlag in der ex-DDR
Im Bereich der Netzpolitik konzentrierte man sich auf den Neu- und Ausbau weniger wichtiger Korridorstrecken für den Hochgeschwindigkeitsverkehr. Darauf wurde der Fuhrpark der neuen ICE-Generationen ausgerichtet. Die alten IC- und IR-Systeme gerieten ins Abseits des politischen und unternehmerischen Interesses. Dürrs Nachfolger Mehdorn hat dann den Exitus des IR vollendet. Das ehemalige Reichsbahnnetz, das anders als das DB-Netz bis zur Wiedervereinigung politisch für unentbehrlich für die DDR-Wirtschaft gehalten wurde, geriet in den Sog der westdeutschen Stilllegungsmanie. Herr Dürr hat diese fatale Fehlentwicklung nach Kräften gefördert. Wie gesagt: Flächenbahn hielt er verkehrlich für unsinnig und fiskalisch für unbezahlbar.
Mehdorn als „Vollender“ Dürrscher Impulse
Am Ende hat dann Hartmut Mehdorn als neuer Bahnchef das politisch gewollte Zerstörungswerk des alten weit verzweigten Bahnsystems noch dramatischer weitergetrieben, mit drastischen Desinvestitionen im Bereich der Weichen, Überholgleise, Stellwerke, Werkstätten, Bahnhöfe, Haltepunkte, Gütergleise und Fuhrparke. Heute ist die Qualität des Bahnsystems drastisch heruntergewirtschaftet. So kann es die eigentlich dringend erforderliche Leistung für die Verkehrswende und das Abwenden der Klimakatastrophe nicht schaffen.
Was folgt?
Daher sollten die Nachrufe zum Tod von Heinz Dürr auch genutzt werden, seine Rolle als Bahnchef vor dem Hintergrund der heutigen Entwicklungen neu zu bewerten und Folgerungen für die Rollenerwartungen an neue Bahnchefs und Aufsichtsräte zu ziehen.