Rede bei der 698. Montagsdemonstration am 4.3.24
Liebe Stuttgarterinnen und Stuttgarter, liebe Freundinnen und Freunde einer vernünftigen Bahn mit einem gescheiten Bahnhof,
vor fünf Jahren war der 4. März auch ein Montag, das heißt: wir waren hier auf dem Schlossplatz, Bernd Köhler und Joachim Romeis machten die Musik, und für die politische Bildung sorgte Winfried Wolf, er bezeichnete die Montagsdemos ja oft als »Volkshochschule unter freiem Himmel«. Winnie sprach über die pharaonenhaften – und gescheiterten – Großprojekte eines gewissen Rüdiger Grube. Nach der Demo gingen wir in den Württembergischen Kunstverein, wo Winnie seinen 70. Geburtstag feierte – auch das war eine politische und kulturelle Veranstaltung.
Winnie wäre heute 75 geworden, und ich bin mir sicher, er hätte es sich nicht nehmen lassen, auch an diesem Geburtstag zu Euch, zu uns zu sprechen und dazu aufzurufen, den Kopf oben zu behalten und oben zu bleiben.
Winnie hatte im Jahre 2000 die Bahnfachleutegruppe »Bürgerbahn statt Börsenbahn« ins Leben gerufen, BsB, daraus ist 2022 »Bürgerbahn – Denkfabrik für eine starke Schiene« entstanden, seit 2023 als Verein organisiert und mit wachsender Mitgliederzahl. Bürgerbahn gibt seit 2022 den »Alternativen Geschäftsbericht DB AG« heraus, für den zuvor seit 2007 das Bündnis »Bahn für alle« verantwortlich zeichnete. Der nächste Bericht erscheint in gut zwei Wochen pünktlich zur Bilanzpressekonferenz, hat rund 120 Seiten und enthält Beiträge unter anderem vom ehemaligen Vorsitzenden des Transportausschusses im EU-Parlament Michael Cramer, von Benedikt Weibel, der kürzlich hier gesprochen hat, von Jürgen Resch, der bei der 700. Montagsdemo in zwei Wochen hier am Mikro stehen wird, von Claus Weselsky, Heiner Monheim, Wolfgang Hesse, Ernst Delle, Dieter Reicherter, von Prellbock Hamburg und anderen Bahninitiativen, um nur einige zu nennen.
Ich habe bei der Vorbereitung auf heute in die damalige Rede reingeschaut, und als jemand, der zwar aus der Gegend kommt, nämlich aus Heilbronn, der aber jetzt sehr weit weg von Stuttgart wohnt, möchte ich an dieser Stelle einen großen Dank aussprechen an die Parkschützer, die Mitschnitte der Reden und der kulturellen Beiträge ins Internet hochladen und die Redetexte schon während der Veranstaltung als Flugblatt hier zur Verfügung stellen. Danke an Eberhard Linckh fürs Filmen. Diese Dokumentation der Demos sorgt ja dafür, dass wir unsere Worte hier nicht nur in die mehr oder weniger laue Luft am Spätnachmittag und frühen Abend sprechen, sondern dass man unsere Aussagen, unsere Warnungen und unsere Aufrufe überall und noch Jahre später sehen, hören und nachlesen kann.
Die Wahrheiten, die wir aussprechen, werden zwar nicht in so großer Auflage gedruckt wie die Behauptungen des Bahnvorstandes, aber zu unseren Aussagen können wir auch nach vielen Jahren noch stehen, während der Bahnvorstand seine Zahlen immer wieder korrigieren und dann die Zahlen bestätigen musste, die schon Jahre zuvor hier auf dem Schlossplatz oder bei den Ingenieuren22 oder bei anderen Fachleuten und Organisationen genannt worden waren.
Im Video von Winnies Rede von 2019 tauchte eine solche Zahl auf: »6 Milliarden sparen – Umstieg 21 jetzt«. Diese Zahl ist inzwischen auch überholt, aber nicht, weil wir damals gelogen hätten, sondern weil seitdem noch diverse Tunnel zusätzlich geplant worden sind, die sich auch erledigt hätten, wenn man Vernunft walten lässt und oben bleibt.
Vor drei Monaten tauchte eine andere Zahl auf, nämlich 60 Milliarden Euro. Die waren bei der Corona-Bekämpfung übriggeblieben, dürfen aber laut Bundesverfassungsgericht nicht für den Klimaschutz verwendet werden. Geklagt hatten CDU und CSU, also ausgerechnet diejenigen, die die schwäbische Hausfrau zum Vorbild für die staatliche Politik erklärt haben.
Dass dieser Vergleich fachlicher Unfug ist, darauf haben Ökonomen schon seit Jahren hingewiesen, aber ich will auf etwas anderes hinaus. Nämlich:
Was würde eigentlich die schwäbische Hausfrau machen, wenn der Monatseinkauf 60 Euro billiger war als geplant? Schmeißt sie dann die 60 Euro weg? Oder legt sie die 60 Euro in die Haushaltkasse, weil demnächst eine Reparatur am Haus ansteht?
Genau, sie würde die Finanzmittel umwidmen. Ihr Mann vermutlich auch.
Aber das Bundesverfassungsgericht hat mit seinem Urteil immerhin bewiesen, dass ein Staat anders wirtschaftet als ein Privathaushalt oder ein Unternehmen.
Bekanntlich hat die Bundesregierung beschlossen, 18 der 60 Milliarden Euro beim Verkehrssektor einzusparen, und die für Finanzen und Verkehr zuständige FDP, also Fahr Doch Porsche, hat durchgesetzt, dass der Autobahnbau ungebremst weitergeht, dafür aber massiv bei den umweltfreundlichen Verkehrsmitteln Bahn, Bus und Fahrrad gekürzt wird. Statt 45 Milliarden Euro für die Bahn-Infrastruktur sollen in den nächsten Jahren nur noch knappe 30 Milliarden Euro fließen.
Jetzt kann man sich fragen: Was würde die schwäbische Hausfrau machen, wenn der Mann plötzlich wegen Kurzarbeit ein Drittel weniger Geld nach Hause bringt?
Der nächste Urlaub würde vermutlich an den Bodensee statt auf die Bahamas führen. Das nächste Auto wird kein Panamera, sondern ein Passat oder ein Panda. Und vor allem: die Idee, das Eigenheim abzureißen und ein neues zu bauen, um 90 Grad gedreht, zwei Etagen tief in den Boden versenkt, mit anderthalb Prozent Gefälle im Fußboden und halb so viel Wohnfläche wie vorher – so eine Idee würde das schwäbische Ehepaar auf den Kompost schmeißen und sich fragen: »Welche Pilze haben wir damals eigentlich geraucht?«
Aber die Deutsche Bahn will im Prinzip so weitermachen wie bisher, vielleicht hier und da ein bisschen zeitlich umdisponieren oder ein paar Züge weniger kaufen. Aber an den sündhaft teuren Großprojekten hält sie fest.
Warum eigentlich? Wir haben doch seit Neuestem eine Infrastrukturgesellschaft, die nicht die Prestigeprojekte des Bahntowers, sondern das Gemeinwohl im Fokus haben soll.
Aber diese Gesellschaft ist leider nach den Wünschen des Bahnvorstandes maßgeschneidert worden, nämlich als simple Verschmelzung von DB Netz und DB Station & Service unter dem neuem Namen DB InfraGO AG im DB-Konzern.
Damit, so sagen wir als Bürgerbahn, haben Regierung und Bundestag gleich vier Fehler begangen:
1.
Die InfraGO ist mit Netz und Station & Service zu eng aufgestellt; zur Infrastruktur gehören auch die für die Energieversorgung, die Werkstätten, die Datenleitungen und das Engineering zuständigen Gesellschaften.
2.
Die InfraGO AG kann gar nicht gemeinwohlorientiert sein, weil eine Aktiengesellschaft verpflichtet ist, maximalen Profit für ihre Eigentümer zu erwirtschaften. Stattdessen müsste man eine Anstalt öffentlichen Rechts draus machen. Die könnte man auf das Gemeinwohl verpflichten, anstatt schwammig von Orientierung zu reden. Diese AöR müsste man schuldenfrei aufstellen und dabei sicherstellen, dass Steuergelder nur an sie fließen, aber nicht für den DB-Konzern abgezweigt werden.
3.
Die DB InfraGO ist – der Name sagt es schon – Teil des DB-Konzerns und ist dem DB-Vorstand unterstellt. Der DB-Vorstand hat sich die Vorstandsfiguren der InfraGO ausgesucht, und so sieht es bei diesen glorreichen Sieben auch aus:
da haben wir als Vorstandsvorsitzenden einen Dr. Philipp Nagl, der über den Straßengüterverkehr promoviert hat und als Unternehmensberater tätig war. Seit 2015 ist er bei DB Fernverkehr als Vorstand Produktion, die DB lobt ihn für Serviceoptimierungen. Ich frage: Welcher Service, welche Optimierungen?
Dann haben wir Ingrid Felipe, die kam Anfang 2023 zur DB, vorher war sie beim Österreichischen Handballbund und in der Tiroler Landesregierung. Nix gegen den österreichischen Handball, aber die Frau ist keine Ingenieurin – sie soll aber die Neubauprojekte und die Generalsanierung leiten.
Weiter zu Dr. Christian Gruß, er hat zum Yield Management promoviert – also: wie presst man aus den Kunden möglichst viel Geld raus? – und ist von 2010 bis 2018 als Edel-Trainee durch diverse Abteilungen des DB-Konzerns geflattert: Heute hier, morgen dort, bin kaum da, muss ich fort. Als größte Qualität sagt die DB-Werbung ihm Zusammenhangswissen nach.
Dann folgt eine Person, über die die DB-Werbung schreibt, sie sei überzeugt: »Veränderung heißt, bei sich selbst anzufangen und jeden Tag Mut und Neugier zu zeigen, eine neue Facette der Welt für sich zu entdecken.« Die betreffende Person, Heike Junge-Latz, hat in ihrer Zeit und Verantwortung bei der DB entdecken dürfen, dass der Intercity 2 ein weißlackierter Regionalexpress ist, der so stark schwankt, dass die Türsteuerung versagt, und dass durch einen durchweichten Bahndamm in Burgrain bei Garmisch ein Zug entgleisen kann und fünf Reisende das nicht überleben.
Für Personenbahnhöfe ist der Betriebswirt und ehemalige Personalvorstand Ralf Thieme zuständig,
für Finanzen und Controlling ein Jens Bergmann, der – ich zitiere – die Finanzierungsarchitektur vereinfachen möchte,
und als Personalvorstand fungiert Heinz Siegmund, laut DB-Werbung seit 50 Jahren »mit viel Energie und Leidenschaft« dabei. Ihn habe ich erlebt, als Ende 2016 die Nachtzugsparte mit 500 Beschäftigten plattgemacht wurde. Von Energie und Leidenschaft zugunsten der Beschäftigten habe ich da nix mitbekommen.
www.dbinfrago.com/web/unternehmen/ueber-uns/struktur-management
Ich zitiere jetzt mal Arno Luik im »Focus« vom 29. Januar 2024: Auf die Frage, ob GdL-Chef Claus Weselsky Recht habe, wenn er den DB-Vorstand als »Luschen«, »Versager«, »Duckmäuser« und »Nieten in Nadelstreifen« bezeichnete, sagte Luik:
»Nieten in Nadelstreifen« stimmt nicht, weil die Bahnchefs heute keine Nadelstreifen mehr tragen. Aber der Rest ist leider und unseligerweise durch Fakten gedeckt.
www.focus.de/politik/deutschland/erst-verschwindet-die-bahn-dann-die-post-dann-die-kliniken-dann-kommt-die-afd_id_259616795.html
4.
Neben der Weisungsbefugnis des DB-Vorstandes sind auch die Gewinnabführungs- und Beherrschungsverträge zwischen DB-Konzern und der InfraGO ein Problem, denn es muss ausgeschlossen werden, dass Steuermittel und Kapitalwerte der staatlichen Infrastruktur als Spielgeld für Auslands-Engagements missbraucht werden.
Wir als Bürgerbahn fordern daher:
Die InfraGO muss als Körperschaft öffentlichen Rechts aus dem DB-Konzern herausgelöst werden und muss gemeinnützig statt gewinnorientiert geführt werden. Eine Gewinnabführung an den defizitären DB-Konzern darf es nicht geben.
Die InfraGO muss ein neues Management aus qualifizierten Eisenbahn- und Technikfachleuten bekommen, anstatt weiterhin von Politikwissenschaftlern und Unternehmensberatern geführt zu werden.
Eine solche gemeinnützige Infrastrukturgesellschaft würde mit monströsen und überteuerten Prestigeprojekten Schluss machen, wie es Bürgerbahn und viele Bahninitiativen seit Jahren fordern.
Stattdessen Weichen und Ausweichgleise einzubauen, die Bahnhofszufahrten zu verbessern, Oberleitungen anzubringen, eingleisige Abschnitte zweigleisig auszubauen – solche kleinteiligen, zielgenau geplanten Maßnahmen sind für einen Taktverkehr viel besser und können viel schneller umgesetzt werden als die Großprojekte, und sie kosten nur einen Bruchteil.
»Bürgerbahn – Denkfabrik für eine starke Schiene« hat vor vier Wochen eine Liste mit elf Projekten veröffentlicht, bei denen durch Umstieg auf vernünftige Lösungen sage und schreibe 55 Milliarden Euro eingespart werden können – da bliebe also genug Geld übrig, nicht nur für den effizienten Ausbau der Infrastruktur, sondern auch für neues Rollmaterial für Tageszüge und Nachtzüge sowie für eine vernünftige Bezahlung des Personals, denn wie will man sonst genügend Leute finden, um doppelt so viele Reisende wie bisher befördern zu können?
https://buergerbahn-denkfabrik.org/wp-content/uploads/2024/02/PM-Verzicht-auf-Megaprojekte.pdf
Auf der Liste stehen unter anderem Sanierung oder Ausbau statt Neubau bei Ulm-Augsburg, bei der Strecke von Lübeck nach Puttgarden auf Fehmarn, bei Hannover-Bielefeld, Hannover-Hamburg (Maschen) und der Hamburger S-Bahn mit zusammen 16 Milliarden Euro Einsparpotenzial. Und dann kommen die sechs richtig fetten Projekte:
Oberrheintalstrecke: Ausbau nur für 200 km/h, keine Tunnellösungen. Das ist 2 Milliarden Euro günstiger. Also: Oben bleiben!
Brenner-Nordzulauf: Ausbau und Elektrifizierung von Bestands- und Ausweichstrecken statt Neubau in Tunnellage. Das ist 8 Milliarden Euro günstiger. Also: Oben bleiben!
Hamburg: Modernisierung des Bahnhofs Altona, Erweiterung des Bahnhofs Dammtor statt einem Tunnel unter der Innenstadt und einem Bahnhof am Friedhof Diebsteich. Das ist 10 Milliarden Euro günstiger. Also: Oben bleiben!
Frankfurt: Viergleisiger Ausbau der Südmainstrecke statt eines Fernbahntunnels unter dem Hauptbahnhof. Das ist 5 Milliarden Euro günstiger. Also: Oben bleiben!
München: Ausbau des Südrings und des Nordrings für die S-Bahn statt der zweiten S-Bahn-Stammstrecke tief unter der Innenstadt. Das ist 6 Milliarden Euro günstiger. Also: Oben bleiben!
Und natürlich:
Stuttgart: Erhalt und Ertüchtigung des jetzigen Kopfbahnhofs, keine Kappung der Magistrale Gäubahn, Umnutzung der bereits gebauten Teile des Projekts für ein unterirdisches Gütertransportsystem statt Pfaffensteigtunnel, Nordzulauf und Nahverkehrsdreieck. Das ist 8 Milliarden Euro günstiger. Also: Oben bleiben!