rail blog 285 / Joachim Holstein

Digitalisierung als Schikane und Abzocke, Teil 1

Bekanntlich wollen die Deutsche Bahn AG und diverse Verkehrsverbünde eine flächendeckende Digitalisierung der Fahrkarten durchsetzen. Die DB will ihre BahnCards als Plastikkärtchen im Scheckkartenformat abschaffen und begründet das allen Ernstes mit dem Umweltschutz, und auch beim Deutschlandticket war zunächst eine volldigitalisierte Umsetzung vorgesehen, was aber zumindest vorläufig gebremst werden konnte.

Alle BahnCard-Besitzer*innen wurden von der DB darüber informiert, dass ihr »Sparausweis« zukünftig nur noch als QR-Code auf einer Handy-App existieren solle. Damit spare man Plastik, schrieb man, und außerdem hieß es:

… auf dem Smartphone ist die digitale BahnCard immer und überall dabei und kann nicht mehr verloren gehen …

Es tut mir leid für die Marketing-Abteilung der DB, aber die Formulierung »immer und überall« wird von ganzen Generationen deutschsprachiger Menschen seit 1986 unweigerlich zu »Das Böse ist immer und überall« ergänzt, weil der »Ba-Ba-Banküberfall« der Ersten Allgemeinen Verunsicherung sich als Ohrwurm ins kulturelle Gedächtnis eingebrannt hat. www.youtube.com/watch?v=rXUlmP5MvnE
(Fun fact: es gibt den Titel auch in bestem Bahn-Englisch: »Se evil is always and everywhere« …)

Ich habe der BahnCard-Abteilung der DB schriftlich vier Fragen gestellt:

1.         Wie groß ist der Umweltschutzeffekt durch die Einsparung von einigen Tonnen Plastik, verglichen mit den Auswirkungen des Tunnelbaus für Hochgeschwindigkeitsstrecken, also konkret: wie viele Meter Tunnel fressen die Rohstoff- und CO2-Einsparung der digitalen BahnCard wieder auf?

2.         Wenn die DB verspricht, dass die Smartphone-Variante »immer und überall« verfügbar ist, dann setzt dies die Existenz eines Smartphones voraus, das garantiert nie vergessen wird, das garantiert nie verlorengeht, das garantiert nie gestohlen wird, das garantiert nie einen leeren Akku hat und das garantiert immer Empfang hat. Da ich bisher kein solches Handy kenne, wollte ich wissen, von welchem Modell die DB hier redet.

3.         Da ich ja durchaus digitalaffin bin, habe ich neben meinem Smartphone auf Reisen oft mehrere Laptops dabei – andere Menschen reisen auch mit Tablet oder Smartwatch. Da könnte man die BahnCard doch auch auf diesen Geräten abspeichern, oder?

4.         Wie soll eine digitale BahnCard bei Kindern ab dem 6. Geburtstag funktionieren, die bekanntlich Fahrscheine brauchen, wenn sie ohne Eltern unterwegs sind, aber die ebenso bekanntlich nicht geschäftsfähig sind, wodurch sie kein Kundenkonto bei der DB, kein Girokonto und keine Kreditkarte haben können – ganz abgesehen davon, dass Erziehungsberechtigte nicht verpflichtet sind, Grundschulkindern ein Smartphone anzuvertrauen.

Obwohl ich dazuschrieb, dass ich die Antwort der DB hier im Blog veröffentlichen würde, brachte man nichts Besseres zustande als:

… vielen Dank für Ihr Schreiben vom 22. April 2024 und Ihr offenes Feedback bezüglich des Zugangs zur Digitalen BahnCard. Wir haben Ihre Bedenken zur Kenntnis genommen und verstehen vollkommen, dass diese Situation für viele unserer Kunden eine Herausforderung darstellen kann, insbesondere für diejenigen, die nicht mobil sind und auf die Vorteile einer BahnCard angewiesen sind.

Wir möchten betonen, dass wir stets bestrebt sind, unsere Angebote und Services zu optimieren, um den Bedürfnissen unserer Kunden gerecht zu werden. Unser Ziel ist es, die Qualität und den Service kontinuierlich zu verbessern und die Verfügbarkeit sowie Aktualität von Informationen zu optimieren.

In Anbetracht der gegebenen Umstände sind wir uns bewusst, dass die digitale BahnCard über die App und das DB-Konto nicht für alle eine praktikable Lösung ist. Daher haben wir ein Ersatzdokument entwickelt, das ab dem 9. Juni 2023 in Ihrem DB-Konto verfügbar sein wird. Dieses ermöglicht es Kunden ohne Zugang zu digitalen Geräten, die Vorteile einer BahnCard zu nutzen. Es bietet eine vorübergehende und flexible Lösung, um diesen Kunden den Zugang zu unseren Dienstleistungen zu gewährleisten.

Wir möchten Ihnen versichern, dass wir bestrebt sind, gemeinsam mit unseren Kunden Lösungen zu finden, die für alle Beteiligten akzeptabel sind. Ihre Rückmeldungen sind für uns äußerst wichtig und fließen maßgeblich in unseren Digitalisierungsprozess ein, um diesen bestmöglich zu gestalten.

Abschließend möchten wir darauf hinweisen, dass auf die übrigen Fragen nicht spezifisch eingegangen werden kann. Wir bitten um Ihr Verständnis und möchten versichern, dass Ihre Anliegen und Fragen ernst genommen werden. Ihre Rückmeldungen sind für uns äußerst wichtig und fließen in unsere kontinuierlichen Bemühungen zur Verbesserung unserer Angebote und Services ein.

Man weiß ja nie: Denken die wirklich so, wie sie schreiben? Würfeln die aus dem Vorrat an Textbausteinen nach dem Zufallsprinzip einen Text zusammen? Haben sie eine KI beauftragt, die entweder nicht ganz auf der Höhe der Zeit ist oder nach dem Vorbild von HAL 9000 darauf programmiert wurde, ihre Nutzer zu täuschen? Wissen sie nicht einmal, dass Formulierungen wie »hat sich stets bemüht« oder »war stets bestrebt« ein vernichtendes Urteil über die Fähigkeiten und die Performance darstellen?

Die allereinfachste Frage – wieviel Plastik, wieviel CO2 wird bei einer jährlichen Anzahl von X BahnCards eingespart, deren Gewicht und Materialmix bekannt sind? – nicht zu beantworten, ist dann der ultimative Offenbarungseid. Wenn die DB das nicht beantworten kann, dann kann man ihr offenbar nicht glauben, dass mit dem Wegfall der Plastikkarten die Umwelt geschont wird.

Wozu die Zwangsdigitalisierung jetzt schon führt – nämlich Schikane und Abzocke – zeigt sich an zwei Meldungen zum Deutschlandticket, die ich noch gar nicht kannte, als ich der DB meine Fragen stellte. Fortsetzung im nächsten Blog …

Über Joachim Holstein

(*1960) arbeitete von 1996 bis 2017 als Steward in Nacht- und Autozügen der DB, war von 2006 bis zur Einstellung dieser Verkehre Betriebsrat der DB European Railservice GmbH und zuletzt Sprecher des Wirtschaftsausschusses. Mitbegründer der Initiative zur Rettung des Nachtzuges Hamburg-Paris (2008; »Wir wollen nach Paris und nicht an die Börse«) und des europäischen Netzwerks für Nachtzüge »Back on Track« (2015; https://back-on-track.eu/de/); Weiteres unter www.nachtzug-bleibt.eu

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