Ein Jahr Deutschlandticket
Zum einjährigen Jubiläum des Deutschlandtickets hat der »SPIEGEL« Volkes Stimme erfragt und fünf Stimmen publiziert. Es ist eine lehrreiche Lektüre.
Es beginnt mit einem Ehepaar im gesetzten Alter, das in einem Dorf am Altrhein wohnt, 5 km von der Bahnstrecke Karlsruhe-Basel entfernt:
Zuerst dachte ich: Das Deutschlandticket brauchen wir nicht. Wir wohnen zwar recht ländlich, zwischen Karlsruhe und Rastatt, in einer Gemeinde mit gut 3500 Einwohnern. Allerdings immer noch mit einer guten Anbindung, eine Bushaltestelle ist 200 Meter entfernt. Trotzdem habe ich den Nahverkehr bisher kaum gebraucht. Im Alltag fahre ich fast alle Wege mit dem Fahrrad. Und wenn wir unsere Tochter besuchten, die jenseits des Schwarzwalds wohnt, nahmen wir das Auto.
Dann kam das Deutschlandticket. Und siehe da:
Dann dachte ich spaßeshalber, schau ich doch mal nach, wie wir dorthin mit öffentlichen Verkehrsmitteln kämen. Ich hatte erwartet, wir müssten umständlich über Pforzheim fahren. Nie hätte ich gedacht, wie gut das geht! Aus dem Nachbarort fährt alle zwei Stunden eine S-Bahn, die ohne Umsteigen direkt ins Dorf unserer Tochter fährt. Und die braucht nicht mal viel länger, als wir mit dem Auto bräuchten. Dabei bezahlen wir jeweils nur 49 Euro im Monat – da ist allein eine Tankfüllung viel teurer. Besser gehts nicht.
Es handelt sich offenbar um die Karlsruher Stadtbahn S8, die übrigens täglich, auch sonntags, sogar im Stundentakt bis Freudenstadt fährt. Dass Eltern und Tochter diese Verbindung bisher nicht auf dem Radarschirm hatten, verwundert etwas, aber Schwamm drüber, denn die beiden haben jetzt Freude am Fahren:
Für uns ist das Ticket ein großer Gewinn: Wir besuchen unsere Tochter häufiger als früher und sparen noch Geld dabei. Wir kommen mehr rum, machen Ausflüge nach Freiburg, Speyer oder Stuttgart. Und meine Frau, die noch berufstätig ist und im Nachbarort als Altenpflegerin arbeitet, fährt nun mit dem Bus zur Arbeit statt mit dem Auto. Außer, wenn sie Wochenenddienst hat und nur der Rufbus fährt – da ist das Auto doch praktischer.
Von den anderen vier Einschätzungen führe ich hier drei nach dem Grad der positiven bis negativen Bewertung auf – und zum Schluss eine, die aus der Wertung fällt.
Es geht also bei einer Mittfünfzigerin aus Düsseldorf weiter, die zuvor nur in Düsseldorf den ÖPNV nutzte:
Am Deutschlandticket schätze ich vor allem die Einfachheit. Mir keine Gedanken um Tickets machen zu müssen. Als Designerin fahre ich etwa zu Druckabnahmen in andere Städte. Wie kompliziert das ohne das Ticket wäre: Ein Ticket in Düsseldorf kaufen, eines für den Zug, ein anderes Ticket in der anderen Stadt. Dienstreisen unternehme ich heute vorzugsweise mit der Bahn.
Das ist – neben dem Preis – das Argument schlechthin für das Ticket: es ist einfach super-einfach. Egal wo man ist, man fühlt sich wie zuhause. Jeder Bus, jede Bahn ist meine, sagt man sich.
Für eine Fahrt von Düsseldorf nach Dortmund habe sie früher »ganz selbstverständlich das Auto genommen«. Und jetzt hat sie sich beim Auto verkleinert und entschleunigt, es werde nur noch für gelegentliche Fahrten zu den Eltern gebraucht.
Nächster auf der Skala ist ein Pendler auf der Strecke von Bergisch Gladbach nach Wuppertal. Zuvor musste er monatlich 300 Euro für ein normales Monatsticket hinblättern – jetzt übernimmt sein Arbeitgeber die 49 Euro komplett, der Pendler spart also jährlich 3.600 Euro. Manche Kritiker des Deutschlandtickets würden das als typischen Mitnahmeeffekt bezeichnen, ich hingegen sage: das alte Preisniveau war unverschämt, denn die Schweiz verlangt für das Gesamtnetz umgerechnet nur 4.080 Euro im Jahr bei einmaliger bzw. 4.350 Euro bei monatlicher Zahlung – und dabei sind alle Fernzüge inclusive, wohlgemerkt.
Aber es hapert an der Zuverlässigkeit im Raum Köln/Wuppertal:
Von Bensberg, einem Stadtteil von Bergisch Gladbach, fahre ich zuerst mit der Straßenbahn zum Bahnhof Köln-Deutz. Straßenbahn und Zug sind nicht wirklich aufeinander abgestimmt, oft ist der Zug verspätet, dann stehe ich mal eine halbe Stunde am Gleis rum. Planmäßig sollte ich um kurz vor acht in Wuppertal sein, oft wird es Viertel nach oder halb neun. Vorigen Donnerstag war ich den ganzen Tag insgesamt viereinhalb Stunden unterwegs.
Ich hadere da mittlerweile sehr – ich will ja das Auto stehen lassen, aber so geht das nicht. Man muss sich auf die öffentlichen Verkehrsmittel doch verlassen können! Auf keinen Fall würde ich wieder 300 Euro für ein Ticket bezahlen. Solange der ÖPNV so unzuverlässig ist, ist er das nicht wert.
Das würde ich genauso sehen. Und es ist gut, dass Pendler ihre Ansprüche anmelden, denn ein Land, das Autobahnen von sechs auf acht Spuren verbreitern will, sollte nicht behaupten, für die Verbesserung des ÖPNV oder die Reduzierung der Tarife sei kein Geld da.
Die negativste Bewertung kommt von einer vierköpfigen Familie (er, sie, 2 Kinder 7 und 10 Jahre alt), die in einer an Stuttgart-Zuffenhausen grenzenden Gemeinde wohnt.
Für unsere Familie lohnt sich das Deutschlandticket finanziell nicht, bisher hat es keiner von uns.
Warum? Weil beide Kinder eigene Deutschlandtickets brauchen, die im Prinzip auch 49 Euro kosten und in Baden-Württemberg lediglich bis auf »gut 30 Euro« ermäßigt werden (genauer: auf 365 Euro im Jahr, also 30,42 Euro). Der Vater bekäme es als Jobticket für 20 Euro, braucht es aber dank Fahrrad nicht für den Weg zur Arbeit, und die Mutter müsste dank eines knausrigen oder autoaffinen Arbeitgebers die vollen 49 Euro bezahlen. Macht zusammen rund 130 Euro.
Jetzt setzt aber das ein, was den Schwaben gerne unterstellt wird: Sparsamkeit. Manche sagen: Geiz. (Gilt nicht für den Bau von Tunnelbahnhöfen.)
Unsere Kinder, sieben und zehn Jahre alt, gehen noch zur Grundschule im Ort und fahren noch nicht regelmäßig ÖPNV. Den Größeren versuche ich gerade erst, an Bus und Bahn heranzuführen, damit er bald zumindest zum [sic] Leichtathletik selbstständig fahren kann.
Ich könnte mir vorstellen, dass Hunderttausende von Eltern, deren Kinder schon in der ersten Klasse mit Bussen zur Schule fahren oder in Großstädten selbstständig zwischen Bus, Tram, U- oder S-Bahn umsteigen müssen, an dieser Stelle irritiert die Augenbrauen hochziehen: da »versucht« man erst im Alter von zehn Jahren, einem Kind Bus und Bahn näherzubringen?
Das bisherige Fahrtenprofil wird als starr angesehen:
Um zusammen mit dem öffentlichen Verkehr zu fahren, bräuchten wir vier Deutschlandtickets. Da sind Einzel- und Tageskarten günstiger, wenn wir nur hin und wieder für Besorgungen oder in der Freizeit nach Stuttgart oder in die Umgebung fahren.
Dass man dank des Deutschlandtickets die eigene Mobilität auch ändern kann, so wie das ältere Ehepaar aus Baden, kommt der Familie aus dem Schwäbischen offenbar nicht in den Sinn.
Recht haben sie natürlich mit ihrer Kritik an den Kinderpreisen:
Ich finde, bisher werden Familien beim Ticket nicht mitgedacht. Kinder sollten die Hälfte des Ticketpreises zahlen. In Baden-Württemberg gibt es zwar eine Jugendermäßigung, doch selbst damit kostet das Ticket noch gut 30 Euro im Monat.
Auch das Phänomen, dass die (oft sehr gut verdienenden) Erwerbstätigen zu stark reduzierten Preisen fahren dürfen, Nichterwerbstätige aber meist den vollen Preis bezahlen müssen, kritisieren sie zu Recht:
Im Moment bekommt das Familienmitglied mit dem höchsten Einkommen das günstigste Ticket – das ist doch absurd.
Sie nennen den gewünschten Höchstpreis für die Familie:
Toll wäre eine Familienkarte, wie im Zoo. 100 Euro im Monat würde ich dafür schon ausgeben.
Das wären 29,82 Euro weniger als die 129,82 Euro, die sie jetzt bezahlen müssten.
Das Ehepaar aus dem Badischen freut sich nach seinem Erweckungserlebnis über einen Zugewinn an Freizeitaktivitäten. Und die Familie im Schwäbischen freut sich, monatlich den Gegenwert eines Eisbechers pro Kopf eingespart zu haben. Da werden mal wieder sämtliche Vorurteile bestätigt. Und dann folgt ein Satz, der sich auf die gewünschten 100 Euro für die ganze Familie bezieht:
Aber das könnte sich auch nicht jeder leisten.
Da frage ich mich, was sich so eine Familie im Großraum Stuttgart bisher leistet. Doch nicht etwa ein »Autole« aus heimischer Produktion?
Übrigens: Würde die Familie in Hamburg wohnen, würden die Kinder nur 19 Euro pro Monat und ab August 2024 gar nichts mehr bezahlen; das Landesparlament hat am 10. April 2024 beschlossen, das Deutschlandticket nach den Sommerferien als Schülerticket kostenlos abzugeben.
Bleibt noch die Rentnerin aus Gütersloh, die ich aus der Wertung genommen habe – weil sie das Deutschlandticket zwar toll findet (»für Ausflüge ist es super«), aber es nicht so nutzt, wie es gedacht ist, nämlich als langfristiges Abo. Stattdessen gibt sie »ganz bewusst« Aboantrag und Kündigung gleichzeitig ab:
Dreimal habe ich schon ein Abonnement abgeschlossen, im Servicezentrum am Bahnhof. Und habe es im selben Moment zur nächstmöglichen Frist wieder gekündigt. Das klappt super. Nur letztes Mal war die Mitarbeiterin etwas genervt, weil sie all meine Kundendaten wieder neu aufnehmen musste.
Das kann ich mir lebhaft vorstellen. Vielleicht hat die Mitarbeiterin auch im Kopf gehabt, dass die 49 Euro alleine schon als Aufwand ihrer Bearbeitung wieder draufgehen und als eigentliches »Fahrgeld« nix übrigbleibt.
Das erste Mal hatte ich das Ticket im Oktober, ich habe damit Städtereisen in der Nähe unternommen und Verwandte in Rotenburg (Wümme) und Mönchengladbach besucht. Das zweite Mal im Februar, als ich bei Freunden in Stuttgart war. Das dritte Mal habe ich es mir nun für Mai geholt, für eine Berlinreise
Auch wenn man es der Frau gönnen mag und ihr zugutehält, dass sie das System im Rahmen des Zulässigen nutzt, sollte man sich aber doch vor Augen führen, dass auch 49 Euro noch ein »Kampfreis« sind, den man aus psychologischen Gründen (unter 50 Euro, also unter 100 D-Mark) halten wollte, bei dem man aber damit kalkuliert hat, dass (fast) alle Nutzerinnen und Nutzer das Ticket auf Dauer bezahlen und sich nicht nur die Rosinen von drei Monaten pro Jahr herauspicken – denn dafür hätte man in den Verkehrsverbünden ein Stück mehr bezahlt, üblicherweise entspricht der Jahrespreis des Abos dem Gesamtpreis von 9,5 oder 10 Monatskarten, das wären dann 59 Euro pro Einzelmonatsticket statt 49 Euro im Dauerabo. Und gerade weil nun stark über die zukünftigen Preise des Deutschlandtickets diskutiert und spekuliert wird, gerät man wegen solcher Tricksereien bei der Buchung und Bezahlung womöglich auf eine schiefe Diskussionsebene, die man sich als »Normalkunde« überhaupt nicht wünscht. Sandra Maischberger hatte ja Anfang 2023 den richtigen Riecher:
Als Wissing freudestrahlend sein „Deutschlandticket“ für das Frühjahr ankündigt, das so heiße, „weil man damit in ganz Deutschland fahren kann“, kratzt Maischberger den Lack ab: „Sie nennen es eben nicht ‚49-Euro-Ticket‘“, betont sie, und hält nicht hinterm Berg mit ihrem Verdacht: So könne man „jedes Jahr die Preise erhöhen. Am Ende ist es vielleicht ein ‚89-Euro-Ticket‘?!“ Wissing schaut überrumpelt und lässt den Teuerungsverdacht im Raum stehen.