Abgehobene Organisationen
Es gibt journalistische Perlen, die man meist nur durch Zufall entdeckt – aber der beim Internetbrowser Firefox integrierte Service von »Pocket« (https://www.mozilla.org/en-US/firefox/pocket/) hilft dem Zufall etwas nach, indem er immer wieder interessante Texte präsentiert, die man sonst nie gefunden hätte, wie zum Beispiel diesen hier von »Krautreporter«:
https://krautreporter.de/sinn-und-konsum/5552-auf-einer-skala-von-1-10-wie-sehr-willst-du-den-support-anschreien
Der Beitrag beginnt mit einem alltäglich-banalen Beispiel, leitet dann aber über zu grundsätzlichen Überlegungen – und genau dort kommt die Deutsche Bahn als Musterexemplar für ein analysiertes Phänomen ins Spiel:
Dass die Menschen, die Produkte kaufen, durch immer neue Modelle, Varianten und Tarife verwirrt und gestresst sind, ist seit Jahrzehnten bekannt. Tatsächlich sind viele Dinge aber mittlerweile zu komplex für die, die sie verkaufen.
Komplexität ist selbstverstärkend und erzeugt immer mehr Komplexität. Ohne absichtsvolles Tun haben viele Organisationen daher über die Jahre ihre Angebote immer komplexer gemacht, was zu Problemen führt, die sie entweder nicht willens oder imstande sind zu antizipieren. Die Bahn-Website zum Beispiel erlaubt den Kauf von Tickets für Züge, von denen ein anderer Teil des Unternehmens schon weiß, dass sie nicht fahren werden, weil die Strecke durch eine Überflutung unterspült ist. Dieses Wirrwarr ist keine Absicht. Das bei dem Verkauf von Bahnfahrten ins europäische Ausland ist es schon: Ohne internationale Standards wäre der Flugverkehr undenkbar, aber Bahngesellschaften wehren sich seit Jahren dagegen, weil sie Angst vor Preisvergleichen haben und im Gegensatz zu Airlines auf ihre Treibstoffe Steuern zahlen müssen, wie Don Dahlmann bei »Gründerszene« erklärt.
Der Link zum Dahlmann-Artikel:
https://www.businessinsider.de/gruenderszene/automotive-mobility/zugverkehr-europa-warum-stehen-sich-die-bahngesellschaften-im-weg
Das Wirrwarr gibt es auch auf anderer Ebene, und auch hier bietet der Artikel eine interessante These als Erklärung:
Zu allem Überfluss wissen Organisationen nicht, dass sie Organisationen sind. Sie kennen nur sich und ihre Welt und ihre Fachtermini. Und weil Menschen in Organisationen die ganze Zeit von ihrer Organisation umgeben sind wie Fische von Wasser, können sie irgendwann nicht mehr wissen, wie es so ist außerhalb der Organisation. Sie können sich dann nur noch mit Mühe vorstellen, in der Aufmerksamkeit ihrer Kundschaft keine wichtige Rolle zu spielen. Da sie sich die ganze Zeit mit ihren Waren und Dienstleistungen befassen und die Strukturen ihrer Organisation mehr oder weniger kennen, nehmen sie unausgesprochen an, dass das auch für die Welt da draußen gilt.
Man kann dies gut beobachten, wenn man mit Menschen redet, die in Konzernen arbeiten. Mir hat mal ein Bahnmitarbeiter erklärt, warum es ganz normal ist, dass die Anzeigetafeln an den Bahnsteigen nichts davon wissen, welcher Zug da gerade auf dem Gleis steht und deshalb oft Blödsinn zeigen. Es sind halt verschiedene Tochtergesellschaften zuständig!
Egal ob in Behörden oder der Privatwirtschaft: Menschen in großen Organisationen erklären real existierende Probleme oft (korrekt) mit organisatorischen Ursachen, die sie achselzuckend hinzunehmen hätten. …
… Wenn das Management nicht aufpasst, sind Organisationen irgendwann auf einer Flughöhe unterwegs, die weit jenseits der Welt ihrer Kundschaft liegt.
Die Flughöhe des DB-Managements ist legendär, nicht zuletzt deswegen, weil es tatsächlich lieber fliegt als die eigenen Züge zu benutzen. In einem Artikel der FAZ von 2016 wird eine Tagung in Berlin erwähnt, zu der auch Siegfried Klausmann, Inhaber der Bahnagentur Gleisnost, aus dem tiefen Südwesten anreiste:
Mit Grauen erinnert sich Klausmann an den Morgen im Jahr 2013, als er ausgeruht aus Freiburg kommend in Berlin an einer Tagung der Deutschen Bahn teilnahm. Als er von seiner Anreise mit dem Nachtzug erzählte, sei ein Raunen durch die Gruppe gegangen. Am erstauntesten sei die spätere Fernverkehrchefin des Unternehmens gewesen. »Ich fühlte mich wie eine Attraktion auf dem Jahrmarkt«, sagt Klausmann, »die waren überrascht, dass das überhaupt geht und dass es solche Leute wie mich gibt.«
Die DB-Verantwortlichen hätten keinen Bezug zu ihrem eigenen Produkt, kritisiert Klausmann. Es sei, als »würde man einen Veganer zum Chef einer Metzgerei machen.« Es sei genau die bass erstaunte DB-Managerin gewesen, die wenig später das Aus für die Nachtzüge verkündet habe.
https://www.faz.net/aktuell/reise/deutsche-bahn-nachtzug-ins-nirgendwo-14220826.html
Während meiner Zeit als Zugbegleiter zwischen 1996 und 2016 war es zum Beispiel ein typisches Problem, dass am Abgangsbahnhof Hamburg-Altona auf der elektronischen Zugzielanzeige »Wörgl« zu lesen war. Wissen Sie auf Anhieb, was das ist? Es ist der Ort, an dem ein Nachtzug in zwei Kursgruppen geteilt wurde: die eine fuhr weiter nach Bozen, die andere nach Schwarzach-St. Veit.
Ich bin dann gelegentlich zum »Infopoint« (so hieß das damals) gegangen und habe die dortigen DB-Beschäftigten gebeten, Wörgl gegen die beiden Endstationen auszutauschen. Die Antwort war regelmäßig, dass das zentral gesteuert werde. Manchmal klappte allerdings trotzdem die Umstellung auf die korrekten Destinationen. In den 2020ern existiert das Phänomen aber immer noch, und wohl nicht ganz zufälligerweise trifft es die Konkurrenz, nämlich wenn beim von der schwedischen SJ und der deutschen Tochter der US-amerikanischen RDC betriebenen Nachtzug nach Stockholm in Hamburg-Altona auf der Bahnhofsanzeige »Padborg«, also der Bahnhof an der deutsch-dänischen Grenze zu lesen war.
Andere konnten das allerdings auch, wie ich in Venedig feststellen musste, als der in München in die Kursgruppen nach Hamburg und nach Dortmund zu teilende Nachtzug mit »Monaco« auf der Anzeige stand. Doppelt blöd, weil dadurch Reisende Richtung Nizza einsteigen wollten. Hinter Verona hieß es dann plötzlich »Brennero/Brenner«, also wieder der Grenzbahnhof. Auch dies doppelt blöd, weil knapp hinter uns der Regionalzug zum Brenner folgte und manche Reisende glaubten, schon bei uns einsteigen zu können.
Anderswo klappt das besser – oder haben Sie schon mal erlebt, dass bei einem Interkontinentalflug mit Tankstopp sowas wie »Aruba« statt Lima, »Sint Maarten« statt Santiago de Chile oder »Gander« statt La Habana angezeigt wurde?