rail blog 65 / Joachim Holstein

49 € Deutschland

An diesem Wochenende endet die Ära der teuren Monatskarten für den öffentlichen Nahverkehr mit ihrem für viele undurchschaubaren Dschungel aus Waben, Zonen, Ringen, Innen- und Außenräumen, Übergangsbereichen und so weiter. Das Abo kostet dann nicht mehr monatlich 55 Euro für eine kleine Großstadt wie Heilbronn, 60 Euro für zwei Hamburger Stadtteile oder sage und schreibe 71 Euro für eine Kleinstadt im Kölner Raum, sondern 49 Euro für ganz Deutschland. Und auch wenn es einige Leute geben mag, die Langstreckenrekorde aufstellen wollen, wird sich das Deutschlandticket (DT) im Alltag ganz anders auswirken.

Erstens ist es eine radikale Preissenkung der bisherigen Zeitkarten der ÖPNV-Kundschaft, die flächendeckend automatisch auf das DT umgestellt werden. Statt 96,90 Euro für Hamburg mit Speckgürtel, 214,80 Euro für den Gesamtnetz Hamburg oder 276,20 Euro für den Großraum Köln (zum Vergleich: die gesamte Schweiz gibt es für 320 Euro pro Monat, ganz Österreich für 91 Euro) kostet das Abo nun 49 Euro pro Monat. Das entlastet die Haushaltskasse (und senkt nebenbei auch die offizielle Inflationsrate).

Zweitens erleichtert es Extratouren. Zwar gibt es bei der DB seit einiger Zeit die »City«-Option bei Fernverkehrstickets, aber die Grenzen dieser »City«-Bereiche sind oft unklar, und wenn die Zielhaltestelle ein Stück weiter weg liegt oder man am Abfahrtstag einmal Zickzack fahren muss, hat man bisher Pech gehabt. Oder wenn man zwischendurch eine Tageskarte für den fremden Tarifverbund lösen musste: welcher Bereich, wie teuer, wie lange (Kalendertag oder 24 Stunden?) und muss man sie erst noch entwerten? Ab 1. Mai 2023: null Problemo, die heimische Karte gilt immer und überall.

Einiges muss sich noch zurechtruckeln. Für Verdruss sorgte, dass es entgegen frühen Versprechungen keine kostenlose Kindermitnahme bei der DB mehr gibt und auch kein »Kinder zahlen die Hälfte«, sondern dass ab dem 6. Geburtstag die vollen 49 Euro kassiert werden. Hier gibt es aber schon die ersten Lösungsmodelle: Hamburg hat entschieden, dass Schulkinder 19 Euro und Azubis 29 Euro zahlen. Wer Sozialleistungen bezieht, zahlt für das 19 Euro (Erwachsene); Schulkinder fahren mit Sozialrabatt deutschlandweit gratis. Und genau das sollte man nicht unterschätzen, denn:

Drittens bedeutet das Deutschlandticket Freiheit. Es gibt in Hamburg Kinder, die noch nie an der Nordsee oder der Ostsee waren. Viele Menschen werden häufiger als bisher ihre Freunde und Verwandten besuchen können. Allein schon das Wissen, jederzeit losfahren zu können, spontan etwas unternehmen zu können, steigert die Lebensqualität. Aus ein paar Dutzend Quadratkilometern »Heimatrevier« werden jetzt 360.000 Quadratkilometer Deutschland.

Und viertens: Vielleicht lassen manche tatsächlich mal das Auto stehen, weil plötzlich die ganze Familie ÖPNV-Abos hat und das Argument, der Sprit sei billiger als die Fahrscheine für den Familienausflug, nicht mehr gilt.

Über Joachim Holstein

(*1960) arbeitete von 1996 bis 2017 als Steward in Nacht- und Autozügen der DB, war von 2006 bis zur Einstellung dieser Verkehre Betriebsrat der DB European Railservice GmbH und zuletzt Sprecher des Wirtschaftsausschusses. Mitbegründer der Initiative zur Rettung des Nachtzuges Hamburg-Paris (2008; »Wir wollen nach Paris und nicht an die Börse«) und des europäischen Netzwerks für Nachtzüge »Back on Track« (2015; https://back-on-track.eu/de/); Weiteres unter www.nachtzug-bleibt.eu

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