rail blog 77 / Joachim Holstein

Von Ölsardinen, Klappsitzen und fehlenden Duschen

Immer wieder liest und hört man den Einwand, Nachtzüge würden nur eine Fahrt pro 24 Stunden machen, dabei viel weniger Personen befördern als ein ICE und tagsüber nutzlos herumstehen; besser wäre es, wenn man sie auf Tagesbetrieb umrüsten und rund um die Uhr nutzen könnte. So behauptete der ehemalige SBB-Chef Benedikt Weibel in einem Interview: »Die Bahn ist immer dann stark, wenn sie viele Menschen aufnehmen kann. Ein Zug kann über 1000 Menschen befördern, bei einem klassischen Nachtzug sind es nur 300.«

https://derinternaut.ch/bahnreisen/benedikt-weibel-nachtzug/

Ein Zug für mehr als 1.000 Menschen ist entweder ein doppelstöckiger TGV in Doppeltraktion oder ein Langzug der S-Bahn – also in beiden Fällen ein »Ölsardinen-Express«. Beim Nachtzug hingegen unterschlug Weibel die Hälfte der Fahrgäste, weil er offenbar nur eine 200 Meter lange Kursgruppe mit 7 Wagen rechnete, denn ein »klassischer Nachtzug« befördert pro Schlafwagen bis zu 36, pro Liegewagen bis zu 60 und pro Sitzwagen bis zu 66 Personen – bei 400 Metern und 14 Wagen kommt man durchaus auf über 700 Reisende.

Zum anderen empfahl er: »Und natürlich muss man sich beim Nachtzug endlich vom Bett verabschieden. Besser wären Sitze, die sich nachts in eine flache Position bringen lassen – und danach leicht wieder für den Tagesbetrieb hergerichtet werden können.«

Da werden Erinnerungen an die alten Sitzwagen der D-Züge wach, deren Sechserabteile zu einer Liegefläche von 2×2 Metern umgebaut werden konnten. Da musste man sich aber schon gut kennen und eine robuste Nase haben, um ruhig schlafen zu können.

Und dann widersprach er sich selber. Zunächst lehnte er »grosszügige Abteile mit Duschen« ab, denn jeder »verfügbare Quadratmeter muss den Passagieren zur Verfügung stehen«, um dann als Grund dafür, dass er für Zürich-Wien und zurück nicht auf beiden Strecken den Nachtzug nehmen würde, zu sagen: »weil mir der Nachtzug – Stichwort kleine Nasszelle und fehlende Dusche – zu wenig hygienisch ist«.

Ja was denn nun? Mit oder ohne Platz, Dusche und Hygiene?

Nach meiner Kenntnis zeigen alle Erfahrungen aus Nachtzügen: Sie benötigen verschiedene Komfortklassen. Sitzwagen haben ihre Berechtigung für Sparfüchse, Spät- und Frühpendler und auch für die, die nachts um 3 am Frankfurter Flughafen aus- oder einsteigen wollen, aber wer richtig schlafen will, legt Wert auf Privatsphäre und Sicherheit für sich und das Gepäck. So etwas bietet das klassische Abteil, wenn man es in der passenden Größe buchen kann – die ÖBB haben hier mit ihren (von der DB entwickelten) Einer-Kabinen im Liegewagen eine Lücke im Angebot geschlossen. Und ein Umbau zwischen Nacht- und Tagstellung lässt sich schon in den altbekannten Schlaf- und Liegewagen praktizieren (wie sonst kommt man in einem Zug von Moskau nach Wladiwostok oder von Montreal nach Vancouver?), wirft aber immer die Frage auf, wann und wo denn die Wagen gereinigt, abgerüstet, gecatert und wieder aufgerüstet werden sollen, wenn sie quasi rund um die Uhr unterwegs sind.

Über Joachim Holstein

(*1960) arbeitete von 1996 bis 2017 als Steward in Nacht- und Autozügen der DB, war von 2006 bis zur Einstellung dieser Verkehre Betriebsrat der DB European Railservice GmbH und zuletzt Sprecher des Wirtschaftsausschusses. Mitbegründer der Initiative zur Rettung des Nachtzuges Hamburg-Paris (2008; »Wir wollen nach Paris und nicht an die Börse«) und des europäischen Netzwerks für Nachtzüge »Back on Track« (2015; https://back-on-track.eu/de/); Weiteres unter www.nachtzug-bleibt.eu

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