rail blog 87 / Heiner Monheim

Innovative Bussysteme im ländlichen Raum

Vorbemerkung:

In meinem letzten Blog 84 zu Straßenbahnen habe ich mich schon mehr den lokalen Verkehrsproblemen und -Lösungen zugewendet. Dies setze ich mit dem heutigen Blog fort, der sich den innovativen Orts- und Stadtbussystemen für Klein- und Mittelstädte widmet.

Frustrierende Mängelanalyse

Leider ist diese Innovation, die seit den 1990er Jahren in einigen sehr überzeugenden deutschen Beispielen nach Schweizer Vorbildern gelungen ist, danach trotz der Erfolge nicht zu einem „Flächenbrand“ geworden. Die Mehrzahl der Klein- und Mittelstädte überlässt die Aufgabenträgerschaft für die Busverkehre den Landkreisen. Die sind aber gesetzlich eigentlich nur zur Organisation des Schülerverkehrs verpflichtet. Und betreiben ihre Aufgabenträgerschaft für ihre Busnetze nur als wenig engagierte Mängelverwaltung bei „gedeckelten Haushaltsansätzen“. Dementsprechend sind vielfach über 90 % der Fahrgäste in ländlichen Bussystemen Schüler.

Der sonstige Einkaufsverkehr, Freizeitverkehr, Berufsverkehr und Tourismusverkehr wird „kampflos“ dem Autoverkehr überlassen. Für den bietet man gut ausgebaut Straßennetze und üppigen Parkraum. Dafür engagieren sich die Gemeinden. Sie sehen sich vor dem Hintergrund ihrer Autofixierung bisher außerstande, mit guten öffentlichen Verkehrsangeboten zur Verkehrswende beizutragen. Zuständig sind sie allenfalls für die Haltestelleninfrastruktur, die dann auch meistens mangelhaft ist, ohne Wetterunterstand, mit „nacktem“ Mast, verrosteten Fahrplanschildern und darin verrutschten, feucht gewordenen und oft unleserlichen klein geschriebenen Fahrplanaushängen. Liniennetz? Fehlanzeige. Werbung? Fehlanzeige! Systemqualität? Fehlanzeige!

Die meisten Kreise haben keine eigenen Busunternehmen. Sondern sie beauftragten private Busunternehmen. Diese erbringen schlecht und recht ihr Pflichtangebot mit leider oft ziemlich alten Bussen, die für moderne Verkehrsmarkterschließung eher unbrauchbar sind. Das Fahrpersonal ist mühsam zusammengewürfelt, mit hohen Fremdpersonalanteilen ohne Kenntnis der Region, der Orte, der Öffnungszeiten wichtiger Einrichtungen und leider manchmal auch des Fahrweges. Dann verirren sich die Busse auch schon mal im Netz.

Aus Rationalisierungsgründen verkehren oft überdimensionierte Großraumgelenkbusse, um die Spitzenlast des Schülerverkehrs abzufahren. Diese großen Busse passen aber nicht mehr auf die engen Dorf- und Altstadtstraßen. Also fahren sie nur noch über die gut ausgebauten Hauptverkehrsstraßen. Und muten ihren Fahrgästen dadurch unnötig lange Zu- und Abgangswege zu.

Taktverkehr und systematisch geplante Knotenpunkthaltestellen für ein ITF Rendezvous sucht man meist vergeblich. Die Abend- und Wochenendverkehre werden gar nicht oder  nur sehr lückenhaft bedient. Die Buslinien sind regional konzipiert. Das ist aus der Aufgabenträgerschaft der Kreise auch verständlich, aber läßt die lokale Feinerschließung für die Nahmobilität unbedient. Hier dominiert das Auto. Deswegen sind in ländlichen Regionen MIV-Anteile am Modal Split oft über 70 % und das Auto wird auch für kürzeste Distanzen genutzt.

Innovationsverweigerung trotz positiver Beispiele

Dieser Mißstand dauert in dem meisten ländlichen Regionen an, obwohl es seit den 1990er Jahren im Bereich des kommunalen und regionalen Busverkehrs vereinzelt beachtliche Innovationen gab. Aber die Mehrzahl der ca. 2.730 Klein- und Mittelstädte ignoriert solche Innovationen. Damit wird die Chance für eine grundlegende Verkehrswende im ländlichen Raum mit deutlicher Steigerung der ÖPNV- Nutzung gründlich verpasst. Sie ist aber weiter möglich, wenn endlich die typischen Blockaden überwunden werden.

Ausgehend von der Schweiz weiter über Österreich erreichte Anfang der 1990er Jahre die Kunde von innovativen Orts- und Stadtbussystemen auch Deutschland. Einige Mittel- und Kleinstädte haben den neuen Trend gesetzt und damit beachtliche Zunahmen der Fahrgastzahlen erreicht. Und das in einem durchweg sehr autofixierten verkehrspolitischen Umfeld. Begonnen haben die Innovation Mitte der 1980er Jahre mit Pilotprojekten in der Schweiz (Frauenfeld, Bülach). Anfang der 1990er Jahre begannen rund um den Bodensee in Dornbirn, Bregenz, Götzis und Feldkirch ähnlich erfolgreiche österreichische Folgeprojekte. Dann sprang Mitte der 1990er Jahre die Innovation nach Deutschland, wo in Lemgo, Detmold, Bad Salzuflen, Lindau, Radolfzell und Euskirchen die ersten sehr erfolgreichen Beispiele starteten.

Vorher-Nachher-Vergleich

Um eine Vorstellung für die Größenordnung der Erfolge zu vermitteln, helfen absolute Zahlen. Vorher hatten die betroffenen Klein- und Mittelstädte meist nur rudimentäre, meist regional orientierte und vorrangig auf den Schülerverkehr ausgerichtete Baisissysteme. Das Liniennetz war weitmaschig mit übers Land mäandrierenden Kursen. Es gab wenige Haltestellen. Die Frequenz war gering. Mit diesen „Rumpfsystemen“ wurden selten mehr als 100.000 bis 200.000 zahlende Fahrgäste erreicht. Nach Umstellung auf die neuen Stadtbussysteme schnellten die Fahrgastzahlen auf Größenordnungen zwischen 2.000.000 und 5.000.000 hoch. Die durchschnittliche Zahl der Fahrten pro Einwohner und Jahr erreichte mit 100- 120 nahezu großstädtische Dimensionen. Solche Erfolge wurden möglich durch

  • eine starke Kundenorientierung
  • meistens wurde die Zahl der Haltestellen gegenüber vorher erheblich gesteigert
  • es wurde ein durchgängiger Taktverkehr (meist Halbstundentakt, teilweise aber auch 20- oder 15 Minutentakt) eingeführt
  • es wurden moderne Midi-Niederflurbusse eingesetzt, mit speziellem, lokal orientiertem Design und Optimierung auf die neue Aufgabe, möglichst viele Fahrgäste mitzunehmen und dabei effizient zu operieren. Die Midibusse bieten 40-60 Plätze und haben eine große Mitteltüre und ein oder zwei weitere Türen und eine große Plattformfläche. Das sichert schnellen Fahrgastwechsel und gute Nutzbarkeit mit Rollator, Einkaufswagen oder Fahrrad
  • ein dichtes radiales Netz von Durchmesserlinien, die zwischen Ortsrand, Zentrum und gegenüberliegendem Ortsrand hin- und her pendeln
  • den Abbau aller „Totzeiten“ (=unproduktive Standzeiten)
  • die Einrichtung einer Treffpunkthaltestelle mitten im Zentrum, evtl. sogar in der Fußgängerzone oder an deren Rand
  • ein attraktives Tarifsystem, das für die kleinen lokalen Netze  (Kurzstrecke) im Einzelfahrschein deutlich günstiger ist als die bis dahin übliche niedrigste Preisstufe. Und es gibt spezielle, vergünstigte  lokale Abonnements
  • ein offensives Marketing, das die hohe kommunale Bedeutung betont (lokales Image) und alle Bürger und Besucher (auch Touristen) anspricht
  • eine kundenfreundliche Haltestellengestaltung mit einem modernen Design
  • einen kundenorientierten Service mit pfiffigen Ideen (Ausgabe von Regenschirmen, Einkaufswagen, Neubürgerpaketen mit Infomaterial und Schnupperabo, eigene ÖPNV- orientierte Orts/Stadtpläne).

 Kommunale Aufgabenträgerschaft

Voraussetzung für eine solche Dynamik ist die Übernahme einer eigenen kommunalen Aufgabenträgerschaft mit entsprechendem finanziellen und personellem Engagement. Die Nahverkehrsgesetze erlauben eine solche kommunale Aufgabenträgerschaft, machen sie aber leider nicht zur Pflicht, anders als bei der Zuständigkeit für Gemeindestraßen und kommunalen Parkraum. Natürlich sollen solche Optionen durch einen ambitionierten Nahverkehrsplan vorbereitet werden.

Dynamik der Entwicklung

Für Deutschland schätzt das Stadtbus-Informationsnetzwerk „Banana- Communication“ eine Größenordnung von 250 neuen, kleinstädtischen Stadtbus- oder Ortsbussystemen. Der VDV hat ein eigenes Stadtbus- Handbuch herausgegeben, in dem die erfolgreichsten Systeme dokumentiert sind. Daraus ergibt sich folgender Trend:  Anfangs ging man davon aus, solche innovativen Bussysteme taugten nur etwas für Mittelstädte zwischen 40.000 und 70.000 Einwohnern. Nachdem dann aber auch diverse Kleinstädte mit Einwohnerzahlen zwischen 10.000 und 20.000 erfolgreich Stadtbusse etablieren konnten und sogar Orte um 3.000 bis 5.000 Einwohner vergleichbare Systeme mit Kleinbussen aufbauten, wurde klar, dass der Markt für solche innovativen Systeme sehr groß ist. Heute spricht man deshalb von innovativen Orts- und Stadtbussystemen und bezieht solche Kleinsysteme mit ein. Allerdings ist die Zahl von ca. 250 innovativen Systemen angesichts von ca. 2.730 Klein- und Mittelstädten in Deutschland nicht gerade umwerfend. Die große Mehrzahl der Klein- und Mittelstädte in Deutschland ist noch ohne innovative Stadt- oder Ortsbussysteme. Daher müsste die Verkehrspolitik alles daran setzen, eine schnelle und flächendeckende Ausbreitung dieser Systeme zu fördern. Doch stattdessen sind die meisten Länder aus der finanziellen Busförderung ausgestiegen und stellen auch keine Planungskosten für die Erstellung lokaler Nahverkehrspläne zur Verfügung. Ein Großteil der ÖPNV- Förderung konzentriert sich auf die teuren Investitionen des großstädtischen Schienenverkehrs wie U- und S-Bahnprojekte und vernachlässigt den ländlichen Raum.

Förderung von ZOBs

Am ehesten gefördert wurde im ländlichen Raum der Ausbau zentraler Omnibusbahnhöfe (ZOB). Sie dienten meistens der Verknüpfung mit dem Schienenverkehr, sofern noch ein Bahnhof oder Haltepunkt vorhanden war. Dort wurden dann große Flächen asphaltiert, um Platz für wartende Busse und Abstellflächen für pausierende Busse zu bieten. Für die Fahrgäste waren solche ZOBs oft unanttraktiv wegen ihrer peripheren Lage zum Ortskern. In den Innovativen Stadtbussystemen dagegen kommen die Treffpunkt- oder Rendezvours-Haltestellen fast immer in die Ortsmitte, also nah zu den zentralen Funktionen (Geschäfte, Rathäuser, Dienstleistungebetriebe, Ärzte …), nah zu den wichtigsten Zielen der Busbenutzer. Die Haltestellen werden kompakt alle unter einem Glasdach und mit nur einer zentralen „Insel“ gestaltet. Das ermöglicht kurze Umsteigewege. Natürlich wird auch der SPNV angebunden, aber nicht von allen Linien, sondern meist nur von einer.


Mein Nächster Bahnblog wird das Thema innovative Bussysteme für ländliche Regionen
fortsetzen

Über Prof. Dr. Heiner Monheim

(*1946), Geograf, Verkehrs- und Stadtplaner, seit den 1960er Jahren befasst mit den Themen Flächenbahn, Schienenreaktivierungen, Erhalt des IR, S-Bahnausbau und kleine S-Bahnsysteme, Stadt- Umland-Bahnen, neue Haltepunkte, Güter-Regionalbahnen, Bahnreform 2.0, Kritik der Großprojekte der Hochgeschwindigkeit und Bahnhofsspekulation. Details: www.heinermonheim.de

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