rail blog 97 / Heiner Monheim

Geringe Innovationsdiffusion bei Quartiers-, Dorf-, Landbus-, Rufbus- und Kombibussystemen

Fortsetzung des Bahnblogs zu innovativen Bussystemen

In meinem Bahnblog 87 habe ich die Entwicklung innovativer Orts- und Stadtbussysteme vorgestellt und einerseits die beachtlichen Erfolge erwähnt, aber andererseits kritisiert, wie wenig Nachahmung solcher Erfolge es in den letzten 30 Jahren gegeben hat.

Wenige Quartiers- und Dofbussysteme

Noch enttäuschender ist die Bilanz, wenn man auch die sogenannten Quartiers- und die Landbussysteme einschließlich Dorfbussysteme in die Betrachtung einbezieht. Auch hier gab es einen ähnlichen Innovationsverlauf. Die ersten Systeme wurden in der Schweiz und Italien in den 1980er Jahren entwickelt, dann folgten Systeme in Österreich und dann auch in Deutschland. Die in Deutschland gelegentlich anzutreffende Variante ist der sogenannte City-Bus, ein spezielles Bussystem, das die Innenstadtbereiche erschließt und optimal an die dortigen Bedingungen eines engen, vielfach verkehrsberuhigten Straßennetzes angepasst ist. Leider blieb es aber bislang in Deutschland bei wenigen Beispielen.

Nahmobilität rückt Quartiersebene in den Fokus

Seit einigen Jahren hat die Verkehrspolitik das Thema „Nahmobilität“ als Handlungsfeld entdeckt. Die Nahmobilität passt gut zum Konzept der „Stadt der kurzen Wege“. Mit Blick auf das Pariser Beispiel und Barcelona wird dabei an die sogenannte „15-Minuten-Stadt“ gedacht, also eine Stadt, in der man im Quartier innerhalb von 15 Minuten alle für das alltägliche Leben wichtigen Ziele der sogenannten „Nahversorgung“ erreichen kann. Sprichwörtlich symbolisiert der sogenannte „Tante-Emma-Laden“ um die Ecke dieses Konzept. Und im ländlichen Raum wird daraus dann eben der „Nachbarschaftsladen“ oder „Dorfladen“.

Zum Konzept der Nahmobilität gehört dann eine möglichst fuß- und radverkehrsfreundliche Infrastruktur. Das wird mittlerweile in entsprechenden Konzepten gefordert. Dass es aber auch einen Nahmobilitäts-ÖPNV geben muss, ist den meisten ÖPNV-Aufgabenträgern und Verkehrsunternehmen nicht bewusst. Dafür haben sie keine Konzepte, beziehungsweise sie reden sich dann raus, die Leute könnten ja kurze Wege viel besser zu Fuß oder mit dem Rad erledigen. Es lohne sich einfach nicht, für kurze Wege ein ÖPNV-Angebot zu machen.

Im Autoverkehr dominieren kurze Wege

Warum wird dann aber allenthalben toleriert, dass im Autoverkehr die kurzen Wege unter 5 km und 3 km und sogar unter 1 km dominieren und durch ein üppiges Parkraumangebot und gut ausgebaute Erschließungsstraßen bedient werden? Das ist für die Umwelt besonders belastend, wegen des Kaltstarts und der noch geringen Betriebstemperatur. Kurze Autofahrten sind besonders emissions- und verbrauchsintensiv.

Quartiere können ganz schön groß sein

In Großstädten haben Quartiere oft Einwohnerzahlen im Zehntausenderbereich, in Metropolen sogar teilweise bis zu 100.000. In gemischt genutzten Quartieren gibt es auch beträchtliche Arbeitsplatzzahlen. Das Verkehrsbedürfnis nach Nahmobilität wird in herkömmlichen ÖPNV- System aber meist nicht adäquat bedient. Die Liniennetzdichte und Haltestellenzahl ist dafür zu gering. Das Netz beschränkt sich auf die radialen Hauptverkehrsstraßen. Der ÖPNV bedient vorrangig die gesamtstädtischen und regionalen Verflechtungen. Daraus folgt, dass der ÖPNV im Kurzstreckenbereich nur minimale Marktanteile erreicht.

Am schlimmsten ist die Marktignoranz des ÖPNV im ländlichen Raum

Im ländlichen Raum lässt der primär regional ausgerichtete ÖPNV die abseits der klassifizierten Straßen gelegenen Siedlungsbereiche meist unbedient „links liegen“. Die dörfliche Binnenmobilität und nachbardörfliche Verflechtung interessiert ihn nicht. Dabei spielen die kurzen Wege unter 3 km auch im ländlichen Raum eine dominante Rolle mit 50-65 % Anteil an allen Fahrten und Wegen. Gerade in den Dörfern ist in der Nahmobilität der Autoanteil viel zu hoch mit den vielen Auto- Kurzstreckenfahrten.

Großer Bedarf für Mikro-ÖPNV-Systeme

Daher ist es wichtig, den öffentlichen Verkehr auch für diese Verkehrsaufgaben attraktiver zu machen. Dem dienen innovative Quartiersbussysteme bzw. Dorfbussysteme und im ländlichen Raum dem überlagert Landbussysteme. Sie machen den ÖPNV viel kundennäher. Bei systematischer Einführung solcher Kleinsysteme würde man ca. 40.000 eigene Quartiers-, City-, Dorf- und Landbussysteme brauchen. Statt dessen gibt es mal gerade 40 deutsche Kleinsysteme, die sich auf wenige, sehr spezielle Einsatzfelder beschränken, vor allem sehr steile Hanglagen wie in Wuppertal oder Heidelberg, wo normale Standardbusse nicht mehr verkehren können, oder sehr engmaschige dörfliche bzw. altstädtische Straßennetze, die überhaupt nur von Kleinbussen befahren werden können.

Im italienischen Südtirol, österreichischen Vorarlberg und in der Schweiz gibt es schon lange an solche Strukturen angepasste Dorf- und Quartiersbussysteme, die natürlich überwiegend mit Minibussen unterwegs sind. .

Rufbussystemen als andere Option

Als weitere Innovation wurde seit den 1970er Jahren versucht, für ländliche Regionen auch außerhalb der dortigen Zentren einen flächendeckenden ÖPNV mit Hilfe bedarfsorientierter Angebotssysteme zu entwickeln. Es begann in den 1970er Jahren mit Pilotprojekten in Friedrichshafen und Wunstorf. Diese Experimente waren noch sehr teuer, weil die damalige Computer- und Kommunikationstechnik noch sehr aufwändig war. Damals kostete ein leistungsfähiger Rechner für interaktive Routendisposition zwischen 1 und 2 Mio. Euro, die Software musste speziell entwickelt werden. Das Straßennetz musste aufwändig digitalisiert werden. Und die Kommunikationstechnik war ebenfalls sehr teuer, man musste spezielle Rufsäulen installieren, weil damals im ländlichen Raum die Telefondichte noch gering war.

Heute ist das alles anders. Die Handy- Dichte ist hoch. Es gibt ein großes Angebot preiswerter Navigationssysteme. Die Software für Routendisposition ist perfekt entwickelt. Das komplette Straßennetz liegt digital vor. Es gibt sehr einfache, kostengünstige Kommunikationsmittel für die Kommunikation zwischen einer Zentrale und den Fahrzeugen.

Der Rufbus kann in verschiedenen Varianten operieren als flächendeckendes Angebot oder Richtungsband-Angebot oder liniengebundenes Angebot. Entscheidend für seine Akzeptanz ist die Vorbestelldauer, sie hängt von der Zahl der eingesetzten Fahrzeuge und deren dezentraler Verteilung im Bedienungsgebiet ab. Lange Vorbestellzeiten sind abschreckend und schränken daher die spontane Mobilität stark ein. Natürlich ist die Rufbusbeförderung teurer als die Linienbusbeförderung wegen der ungünstigen Relation zwischen der Zahl der Fahrgäste zur Menge des Fahrpersonals. Aber Verkehrswende darf sich nicht nur auf stark nachgefragte Relationen beschränken. Die kommunale Verkehrspolitik leistet sich hohe Kosten für gut ausgebaute Erschließungsstraßennetze, dann muss sie sich auch um feinerschließende ÖPNV-Angebote kümmern.

Bürgerbus als weitere Innovation

Ebenfalls nur sehr mühsam kamen die von den Niederlanden „importierten“ Bürgerbussysteme in Gang. In den Niederlanden ist der sogenannte „Buurtbus“ weit verbreitet als Basissystem ländlicher Mobilität. Er fährt mit Kleinbussen und wird von ehrenamtlichem Fahrpersonal bedient. In Deutschland war Nordrhein-Westfalen Vorreiter der Bürgerbusse, seit Anfang der 1980er Jahre wurden dort 110 Bürgerbussysteme etabliert, bundesweit gibt es ca. 260 Bürgerbussysteme. Bürgerbusse machen nur ein eingeschränktes Angebot, angefangen von wenigen Fahrten pro Woche bis zu 8-10 Fahrten pro Tag. Teilweise resultieren die Unterschiede aus der verschiedenen Angebotsdichte des regulären ÖPNV und aus der Arbeitsteilung mit parallelen Rufbusangeboten. Maßgeblich ist der politische Kontext, ob der Bürgerbus und Rufbus gemeinsam nur ein marginales Restangebot für Autolose sein sollen oder ob sie als attraktives Grundangebot für Jedermann konzipiert werden. Neben der reinen Transportfunktion haben Bürgerbusse insbesondere für ältere Bewohner eine wichtige Sozialfunktion als Kontaktschnittstelle und Voraussetzung für Teilhabe am öffentlichen Leben.

Fahrzeuggröße als Faktor

Kurioserweise ist gerade der ländliche ÖPNV stark auf große Busse fixiert, weil er überwiegend den Schülerverkehr bedient und dieser am Morgen ausgeprägte Spitzen hat. Und wegen der jahrzehntelangen Konzentration der Schulen im Sekundarbereich ergibt sich eine starke Bündelung der Schülerfahrten, die dann bei vorrangigem Rationalisierungsinteresse der Aufgabenträger mit möglichst wenig Fahrzeug- und Fahrtenaufwand und daher mit großen Bussen erledigt werden. Diese extrem langen Sammelfahrten bedingen für die Schüler sehr lange Fahrzeiten. Kehrseite dieser Praxis ist, dass schmale, verwinkelte Straßen wie sie in Altstädten und Dörfern häufig sind, nicht mehr bedient werden können. Ebenso passen solche großen Busse nicht mehr in verkehrsberuhigte Wohnstraßen. Oft gibt es auch wegen der Angst vor großen Bussen Bürgerinitiativen gegen neue Buslinien.

Alternativ dazu ist die Bedienung mit Midi- und Minibussen, also mit dem Mikro-ÖPNV. Diese Busformate passen überall rein. Sie bedienen vorzugsweise kurze Aktionsradien. Und halten oft. Die Fahrzeugindustrie hat für diesen Einsatzbereich neue komfortable Kleinbusse entwickelt. Diese Bustyp kann auch als erster durchweg elektrisch betrieben werden, wegen der begrenzten Reichweite, dem geringen Gewicht und der begrenzten Geschwindigkeitsanforderung. Man hätte also alle Mittel, um in dünnbesiedelten Regionen einen attraktiven ÖPNV aufzubauen.

Geringe Innovationsdiffusion beim kombiBUS

Als weitere Innovation wurde seit 2010 versucht, für ländliche Regionen den kombinierten Personen- und Güterverkehr wieder einzuführen, der bis in die 1960er Jahren beim Postbus weit verbreitet war. In Skandinavien (ganz Finnland, große Teile von Nordschweden) sichert die kombiBUS-Bedienung den extrem dünn besiedelten Regionen einen attraktiven ÖPNV, weil der Gütertransport mit Bussen große Kostendeckungsbeiträge leistet. In Deutschland war die dünn besiedelte Uckermark die erste Anwendungsregion. Dort hat der kombiBUS zur Sicherung der dezentralen Einzelhandelsversorgung beigetragen und der Uckermärkischen Verkehrsgesellschaft erspart, ihr Angebot und ihr Personal zusammenstreichen zu müssen. Stattdessen begann ein umfassender Innovationsprozess. Trotz vieler Vorträge und Publikationen wurde aber bislang der kombiBUS nicht in Folgeprojekten umgesetzt, weil die Innovationsbereitschaft und die Vorstellungskraft fehlte.

Noch geringes Innovationstempo bei elektrischen Bussen und autonom fahrenden Bussen

An der Abneigung der ÖPNV-Betriebe gegen Mini- und Midibusse könnte sich etwas ändern, wenn der ÖPNV stärker auf die Elektrotraktion und die Angebotsdifferenzierung setzt. Denn in die elektrisch fahrenden Minibusse werden in innovationsfreudigen Verkehrsunternehmen schon jetzt neue Hoffnungen gesetzt. Hierzu laufen erste Modellvorhaben mit autonom und elektrisch fahrenden Minibussen. Für das autonome Fahren sind einfache Straßennetze mit wenigen Kreuzungen und hohen Netzanteilen anbaufreier Straßenabschnitte am besten geeignet. Der generelle autonome Einsatz jeglicher ÖPNV Fahrzeuge in allen Straßennetzteilen wird sicher noch lange Jahre bis zur Serienreife brauchen. Dagegen ist in dünnbesiedelten Regionen mit einfachen Straßennetzen, geringer Bebauungsdichte und hoher Relevanz von Midi- und Minibussen für die Fuhrparks der Busunternehmen am ehesten an den Einsatz autonomer Busse im regulären Linienbetrieb zu denken. Die ersten sechs Pilotbetriebe sind jedenfalls vielversprechend und würden bei mehrjähriger Bewährung eine Revolution im Bestellverhalten der Aufgabenträger und Angebotsverhalten der Busunternehmen ermöglichen, wenn diese endlich ihre Verkehrswendeaufgabe ernst nehmen. In der rheinischen Mittelstadt Monheim fahren bereits autonome Busse im Linienverkehr.

Offensive für ländlichen ÖPNV

Elektrische Minibusse wären ein guter Hebel, um das Thema Elektromobilität von der einseitigen Fixierung auf den Pkw abzulösen und viel mehr Priorität für Elektrobusse zu reklamieren. Aber noch engagieren sich die großen Bushersteller nicht für die serielle Produktion elektrischer Mini- und Midibusse. Und noch scheuen sich die meisten Landkreise, in ihre Nahverkehrspläne die Option kleinteiliger, feinerschließender und elektrischer Bussysteme aufzunehmen. Deswegen bekommt das Thema kleinteiliger Bussysteme in Deutschland keine Dynamik. Während in der Schweiz der Rufbusbetrieb systematisch als sogenannter Publi-Car vom Schweizer Postbus angeboten wird, fehlt es in Deutschland an geeigneten Strukturen für eine breite Einführung. Die werden auch so lange nicht geschaffen, wie in den üblichen Nahverkehrsplänen der Kreise der Verkehrswendeehrgeiz gebremst ist und die politischen Leitungsebenen und administrativen Vollzugsebenen sich keine starke Abnahme des ländlichen Autoverkehrs vorstellen können geschweige denn wünschen. Eine Angebotsoffensive im ÖPNV können sie sich deshalb nicht vorstellen. Allein mit ein paar Pilotprojekten wie bei autonomen Bussen wird die ländliche Verkehrswende nicht gelingen. Dass sie aber dringend nötig wäre, war eine der wichtigsten Erkenntnisse aus dem 9-€-Ticket-Experiment – weil auch im ländlichen Raum eine große Nachfrage nach ÖPNV-Leistungen besteht, die bislang nicht adäquat bedient wird. Ohne eine Angebotsoffensive im ländlichen ÖPNV wird die Verkehrswende in Deutschland nicht vorankommen.

Über Prof. Dr. Heiner Monheim

(*1946), Geograf, Verkehrs- und Stadtplaner, seit den 1960er Jahren befasst mit den Themen Flächenbahn, Schienenreaktivierungen, Erhalt des IR, S-Bahnausbau und kleine S-Bahnsysteme, Stadt- Umland-Bahnen, neue Haltepunkte, Güter-Regionalbahnen, Bahnreform 2.0, Kritik der Großprojekte der Hochgeschwindigkeit und Bahnhofsspekulation. Details: www.heinermonheim.de

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