rail blog 244 / Joachim Holstein

Dynamic Pricing – Gier schlägt Kundenfreundlichkeit

Früher konnte man den Preis für eine Bahnfahrt im Kursbuch nachschlagen oder mit Stift und Papier ausrechnen: Entfernung mal Kilometerpreis. Selbst für Auslandsverbindungen waren Preise abgedruckt. Man wusste also nach ein paar Sekunden, was eine Fahrt von München nach Madrid, von Stuttgart nach Stockholm oder von Frankfurt nach Amsterdam kosten würde: 2. Klasse, 1. Klasse, Erwachsener, Kind, fertig war die Differenzierung. Auf das Datum oder die Aufenthaltsdauer kam es nicht an. Und schon gar nicht darauf, ob man mit dem ersten Zug Verspätung hatte und deswegen den Anschlusszug verpasste (was seltener vorkam als heute, denn damals redeten zwar alle vom Wetter, aber nicht die Bahn).

Irgendwann wurden vergleichsweise einfache und nachvollziehbare Differenzierungen eingeführt, zum Beispiel Ermäßigungen, wenn die Rückfahrt erst nach dem Wochenende stattfand: Urlauber und Familienbesucher fuhren also billiger als Geschäftsreisende, die von heute auf gleich wieder zurückfahren mussten. Oder es gab »rosarote Wochenenden«, um die Samstagszüge besser auszulasten. In Frankreich gab es passend zur Fahne blaue (ermäßigte Preise) und weiße (normale Preise) Perioden, und wenn mich meine Erinnerung nicht trügt, auch rote Perioden, in denen bestimmte Tickets überhaupt nicht galten, entscheidend war entweder der Fahrtantritt oder die gesamte Fahrtdauer. Das konnte man alles in einem gedruckten Kalender nachlesen, der galt für das gesamte Fahrplanjahr und war verbindlich – vergleichbar also einem Reiseprospekt, in dem die saisonal unterschiedlichen Preise für ein Hotel, für eine Kreuzfahrt oder eine ganze Pauschalreise einmal festgesetzt wurden und dann während der gesamten Laufzeit des Kataloges verbindlich waren. Statisch also.

Und dann erfand jemand die »dynamische Preisgestaltung«. Bei der gibt es keine gedruckten Preise mehr, die man nachschlagen und nach denen man seinen Reisetermin wählen kann, sondern man muss eine Anfrage an ein Buchungsportal stellen und einen gewünschten Termin oder zumindest einen in Frage kommenden Zeitraum des Reisewunsches eingeben. Dann erscheint ein Preis. Der liegt möglicherweise höher als das, was man in der Werbung mit »ab XX Euro« gesehen hat. Also probiert man einen anderen Termin, um vielleicht zwei Stunden später wieder auf das erste Angebot zurückzukommen. Aber – oh Wunder – der Preis liegt jetzt 10 Euro oder 50 Euro höher. Denn das System hat die vorherige Anfrage registriert und als »steigende Nachfrage« interpretiert, und da laut kapitalistischem Dogma Angebot und Nachfrage die Preise bestimmen, verlangt der Algorithmus jetzt mehr. Macht man jetzt nichts und fragt erst eine Woche später wieder an, kann es sein, dass der Preis noch höher ist – aber es kann auch sein, dass der Preis unter den ersten Wert gesunken ist. Das nennt sich dann dynamisch.

Der Effekt: niemand kann sich sicher sein, die bestmögliche Entscheidung getroffen zu haben. Alle müssen befürchten oder vermuten, mehr als nötig bezahlt zu haben (»vielleicht wäre es ja am Montag früh um 3 Uhr noch billiger gewesen«). Das heißt: aus Menschen, die eine Dienstleistung in Anspruch nehmen, sollen Schnäppchenjäger werden, die abwägen sollen, ob der Zeitaufwand für die Suche nach dem günstigsten Preis die Ersparnis gegenüber dem erstbesten Preis womöglich übersteigt.

Dieses intransparente Buchungssystem »aus der Hölle« ist jetzt den ÖBB voll auf die Füße gefallen, denn pünktlich zum Start der neuen Nightjets schossen die Preise dermaßen in die Höhe, dass manchmal vierstellige Beträge für ein Abteil aufgerufen wurden.

Ich weiß zwar, dass dieses »dynamic pricing« bei Flugtickets oder obskuren Webshops eingesetzt wird, aber man stelle sich mal vor, die Gebühr für einen neuen Personalausweis, das Eintrittsgeld für ein Museum oder der Verkaufspreis für einen Liter Milch beim örtlichen Supermarkt würde nicht mehr verbindlich angezeigt (durchaus mit Sonderangeboten an bestimmten, vorher genannten Tagen), sondern man würde an der Kasse zu hören bekommen: »In den letzten 30 Minuten wurde dieses Produkt / diese Dienstleistung 10 Mal erworben, daher ist der Preis jetzt doppelt so hoch wie zu dem Zeitpunkt, zu dem Sie das Gebäude betreten haben«. Unvorstellbar, oder? Hoffentlich …

Um konkrete Preise zu nennen: die ÖBB nennen in ihren »Nightjet-Handbüchern« die Preisspannen.

https://www.oebb.at/static/tarife/de/handbuch_fuer_reisen_mit_dem_oebb_nachtreisezug_in_deutschland/index.html

Ich greife mal die einfachste Version heraus – die Aufpreise für innerdeutsche Reisen von Menschen, die im Besitz einer Netzkarte sind, also für den Transport an sich bereits bezahlt haben.

Aufpreis Sitzplatz: von 9,90 Euro bis 19,90 Euro.

Aufpreis Liegewagen 6er-Abteil: von 29,90 Euro bis 59,90 Euro.

Aufpreis Liegewagen 4er-Abteil: von 34,90 Euro bis 74,90 Euro.

Aufpreis Minicabin (Liegewagen-Einerkapsel): von 34,90 Euro bis 74,90 Euro.

Aufpreis Schlafwagen 3er-Abteil: von 69,90 Euro bis 134,90 Euro.

Aufpreis Schlafwagen 2er-Abteil: von 84,90 Euro bis 169,90 Euro.

Aufpreis Schlafwagen 1er-Abteil: von 204,90 Euro bis 389,90 Euro.

Aufpreis Schlafwagen 3er-Abteil mit Dusche/WC: von 119,90 Euro bis 229,90 Euro.

Aufpreis Schlafwagen 2er- Abteil mit Dusche/WC: von 149,90 Euro bis 289,90 Euro.

Aufpreis Schlafwagen 1er- Abteil mit Dusche/WC: von 334,90 Euro bis 649,90 Euro.

Hat man noch keinen Fahrschein und keine Ermäßigung, dann kostet ein Platz im Schlafwagen bis zu 899,90 Euro. Man unterstellt also, dass der Fahrschein Hamburg-München in der 1. Klasse für Vollzahler 250 Euro kostet. Realer Preis im ICE für Spontanfahrer: über 320 Euro.

Hinzu kommt: Wenn man dieser umworbenen hochpreisigen Kundschaft noch am Abfahrtstag ein freies Schlafwagenabteil anbieten möchte, das für einen knappen Tausender verkauft werden kann, dann muss man sich in den Monaten seit Buchungsbeginn geweigert haben, dieses Abteil für 300, 400 oder 600 Euro zu verkaufen. Man hält also ein knappes Gut künstlich zurück, um einige Exemplare davon mit Extraprofiten verkaufen zu können.

Und das ist die Politik einer staatseigenen Bahngesellschaft?

Für alle, die mehr wissen wollen, empfehle ich den Beitrag von Sebastian Wilken auf seiner Website »Zugpost«:

https://zugpost.org/nightjet-neue-preise/

Über Joachim Holstein

(*1960) arbeitete von 1996 bis 2017 als Steward in Nacht- und Autozügen der DB, war von 2006 bis zur Einstellung dieser Verkehre Betriebsrat der DB European Railservice GmbH und zuletzt Sprecher des Wirtschaftsausschusses. Mitbegründer der Initiative zur Rettung des Nachtzuges Hamburg-Paris (2008; »Wir wollen nach Paris und nicht an die Börse«) und des europäischen Netzwerks für Nachtzüge »Back on Track« (2015; https://back-on-track.eu/de/); Weiteres unter www.nachtzug-bleibt.eu

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