rail blog 59 / Joachim Holstein

»Nachtzüge sind billiger als Stuttgart 21«

Das war unser Slogan, als die Deutsche Bahn mit großem Trara Stuttgart 21 damit rechtfertigen wollte, dass man dadurch um soundsoviel Minuten schneller von Paris nach Bratislava komme.

Dieselbe Argumentation kennt man von Hochgeschwindigkeitsstrecken-Projekten, denen es um eine Zeitersparnis von wenigen Minuten, aber um Baukosten in dreistelliger Millionenhöhe, manchmal sogar um mehrere Milliarden geht. Dabei steht die Zeitersparnis aber erstmal nur auf dem Papier und kommt nur der Minderheit der Fernverkehrsreisenden zugute, aber auch nur dann, wenn nicht auf den Nahverkehr umgestiegen werden muss, denn dann verliert man wieder Zeit, sobald die Anschlüsse nicht mehr passen.

Nicht fiktiv und gering, sondern real und groß ist hingegen die Reisezeitersparnis durch Nachtzüge, auch wenn sie nicht so schnell fahren können wie ICE, TGV, AVE und Co. Denn Nachtzüge schließen die Lücke zwischen dem letzten Zug des Abends und dem ersten des nächsten Morgens. Vier Beispiele:

Frankreich: Paris nach Nizza (Luftlinie 680 km) – erste Verbindung von 5:50 auf 12:37 Uhr, letzte von 15:59 Uhr auf 21:59 Uhr, jeweils mit Umsteigen. Mitten in dieser 14-stündigen Pause der TGVs fährt der Nachtzug um 20:51 Uhr in Paris ab und erreicht Nizza um 9:08 Uhr. Zeitgewinn fast 5 Stunden am Abend, 3,5 Stunden am Morgen.

Spanien: Barcelona nach Sevilla (Luftlinie 830 km) – erste Verbindung von 7:00 Uhr auf 12:34 Uhr, letzte von 17:25 Uhr auf 23:40 Uhr, jeweils mit Umsteigen in Madrid. Danach ist 13,5 Stunden lang nix los, sieht man von dem auf www.bahn.de gemachten Vorschlag ab, in Madrid von 23:55 Uhr bis 07:00 auf den Anschluss zu warten. Gäbe es einen Nachtzug, der gegen 21:30 Uhr in Barcelona abfährt und gegen 8:30 Uhr in Sevilla ankommt, würde er abends und morgens jeweils 4 Stunden Zeitgewinn bringen.

Italien: Mailand nach Neapel (Luftlinie 660 km) – erste Verbindung von 5:10 Uhr auf 10:28 Uhr, letzte von 19:00 Uhr auf 23:28 Uhr. Der Nachtzug fährt in Mailand um 22:13 Uhr ab und erreicht Neapel um 8:46 Uhr, bringt also abends 3,25 Stunden und morgens selbst gegenüber dem zu ungünstiger Zeit startenden Frecciarossa noch 1,75 Stunden Zeitgewinn.

Und nun München-Paris (Luftlinie 680 km): da bietet die DB ICE-Verbindungen, die um 3:32 Uhr bzw. um 5:00 beginnen und daher kaum in Frage kommen. Der erste Direktzug fährt um 6:51 Uhr ab und kommt in Paris um 12:31 Uhr an. Letzte Verbindung: 16:58 Uhr auf 23:11 Uhr, Umsteigen in Karlsruhe. Der Nachtzug der ÖBB fährt um 0:12 ab und kommt um 9:43 Uhr in Paris an. Zeitgewinn abends 7,25 Stunden und morgens 2,75 Stunden.

Dasselbe könnte man jetzt durchdeklinieren für Berlin-Köln, Berlin-Stuttgart, Frankfurt-Prag, Hamburg-Paris, Malmö-Brüssel, Brüssel-Barcelona, Zürich-Barcelona und viele andere Strecken, bei denen es eine Nachfrage gibt, die aber buchstäblich nicht zum Zuge kommt, weil die Bahnunternehmen sich weigern, die entsprechenden Fahrten anzubieten, und weil die Politik sich weigert, die Bahnverbindungen mindestens genauso zu fördern wie den Auto- oder Luftverkehr.

Über Joachim Holstein

(*1960) arbeitete von 1996 bis 2017 als Steward in Nacht- und Autozügen der DB, war von 2006 bis zur Einstellung dieser Verkehre Betriebsrat der DB European Railservice GmbH und zuletzt Sprecher des Wirtschaftsausschusses. Mitbegründer der Initiative zur Rettung des Nachtzuges Hamburg-Paris (2008; »Wir wollen nach Paris und nicht an die Börse«) und des europäischen Netzwerks für Nachtzüge »Back on Track« (2015; https://back-on-track.eu/de/); Weiteres unter www.nachtzug-bleibt.eu

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