Stuttgart – München: Trotz Neubaustrecke nicht schneller als vor einem Vierteljahrhundert

Presseerklärung Bürgerbahn – Denkfabrik für eine starke Schiene

13. Dezember 2022

Allerorten heißt es: „Mit Inbetriebnahme der neuen Schnellfahrstrecke Wendlingen-Ulm verkürzt sich die Reisezeit zwischen Stuttgart und München um rund 15 Minuten.“ So die Presseerklärung der Deutschen Bahn AG. „15 Minuten Fahrzeitverkürzung zwischen Stuttgart und München wird die 60 Kilometer lange Strecke bringen“. So die regional führende „Stuttgarter Zeitung“ (8.12.). „Die neue Schnellfahrstrecke […] verkürzt die Fahrtzeit zwischen den beiden süddeutschen Landeshauptstädten um 15 Minuten auf weniger als zwei Stunden.“ So die „Süddeutsche Zeitung“ (10.12.).

Das mit der Verkürzung der Fahrtzeit ist falsch. Tatsächlich gab es vor 27 Jahren vergleichbar schnelle ICE-Verbindungen zwischen Stuttgart und München. 1995/96 benötigte man auf der ICE-Verbindung München-Stuttgart zwei Stunden und eine Minute alle Stunde. Zurück waren es nur vier Minuten mehr. Siehe hierzu unten die Kopie aus dem Winterfahrplan 1995/96 der Deutschen Bahn AG. Berücksichtigt man dabei

  • dass die Pünktlichkeitsquote im Fernverkehr 1995/96 deutlich über dem aktuellen Niveau von 60 Prozent lag
  • dass die durchschnittliche Fahrtzeit aller ICE-Verbindungen über die Neubaustrecke im neuen Fahrplan bei knapp 2 Stunden und 5 Minuten liegt, also knapp 2 Minuten über dem Wert von 1995
  • dass die Deutsche Bundesbahn noch bis 1992 plante, die traditionelle Strecke über die Schwäbische Alb mit einem relativ überschaubaren Investitionsaufwand um rund fünf Minuten zu beschleunigen

dann erscheint das gesamte Projekt Neubaustrecke Wendlingen-Ulm nochmals fragwürdiger. Vier Milliarden Euro für einen rasenden Stillstand? Die ARD-„Tagesschau“ stellte am 11.12. bereits kritisch fest: „Die Baukosten allein für die nun eröffnete Strecke betragen knapp vier Milliarden Euro.“ Dabei ging man im ARD-Studio von dem  behaupteten Zeitgewinn aus; so heißt es dort weiter:  Diese vier Milliarden „bringen den Reisenden derzeit gerade einmal 15 Minuten Zeitgewinn.“ Was aber, wenn es diesen Zeitgewinn zumindest auf der Gesamtstrecke Stuttgart – München gar nicht gibt? Warum eine Neubaustrecke, bei deren Bau die Landschaft zerschnitten und in großem Maßstab CO2 emittiert wurde? Warum der Bau einer Strecke, die zu einem großen Teil in Tunneln verläuft, wofür es kein ausreichendes Bandschutzkonzept gibt? Warum eine Neubaustrecke, bei der die Züge einen um 160 Meter größeren Höhenunterschied als auf der traditionellen Verbindung zu bewältigen haben? Banale Frage: Werden Tunnel nicht traditionell deswegen gebaut, um den Höhenunterschied zu reduzieren? Das heißt auch: Trotz kürzerer Strecke ist der Energieverbrauch bei der Neubaustrecke deutlich größer als bei der traditionellen Verbindung.

Die berechtigte Frage lautet: Warum kam es zwischen 1996 und 2022 zur Verlängerung der Fahrtzeit um eine Viertelstunde? Die Antwort: Ursache sind im Wesentlichen die Verschlechterungen bei der Infrastruktur. Wäre man hier nicht – wie fast überall im Schienennetz – mehr als zwei Jahrzehnte lang auf Verschleiß gefahren, hätte es seit 1995 durchgehend die 2-Stunden-Fahrtzeit zwischen Stuttgart und München gegeben.

Drei Folgerungen von Bürgerbahn – Denkfabrik für eine starke Schiene: Erstens. Der Ruf nach mehr Geld für die Schieneninfrastruktur ist in der gegebenen Situation problematisch. Das wichtigste Ziel aktuell muss darin bestehen, die jährlich rund 10 Milliarden Euro staatlicher Gelder für die Schieneninfrastruktur richtig einzusetzen. Zweitens. Großprojekte wie Stuttgart 21, Fernbahntunnel Frankfurt/M., Zweite S-Bahn-Stamm-Strecke in München, die Neubaustrecken Hannover-Bielefeld und Würzburg-Nürnberg und die Verlegung des Fernbahnhofs Hamburg-Altona nach Diebsteich müssen gestoppt werden. Die dadurch freiwerdenden Mittel sollten für sinnvolle Projekte wie Elektrifizierung, Beseitigung von Engpässen, Reaktivierungen von Strecken und Gleisanschlüssen,  Fahrzeugbeschaffung vor allem auch im Nahverkehr (49-Euro-Ticket!) eingesetzt werden. Drittens. Der Deutschlandtakt ist neu zu takten. Als Grundsatz muss gelten: Takt vor Tempo. Klimabahn statt Beton-Bahn!

Rückfragen und Details bei: Dr. Christoph Engelhardt (wikireal.org) – Tel. 0176 – 969 36 959  und

Dr. Winfried Wolf (auch V.i.S.d.P.) – Tel.:  0331 – 60 08 98 43

Mitglieder bei Bürgerbahn – Denkfabrik für eine starke Schiene sind u.a.: Tom Adler (Stuttgart) / Prof. Karl-Dieter Bodack (Gröbenzell) / Ernst Delle (Schorndorf) / Dr. Christoph Engelhardt (München) / Klaus Gietinger (Saarbrücken) / Dipl.Ing. Eberhard Happe (Celle) / Johannes Hauber (Mannheim) / Prof. Wolfgang Hesse (München) / Joachim Holstein (Hamburg) / Michael Jung (Hamburg) / Andreas Kegreiß (Herrenberg) / Andreas Kleber (Schorndorf) / Ernst-Günter Lichte (Hamburg)  /Prof. Heiner Monheim (Stendorf) / Roland Morlock (Esslingen) / Andreas Müller-Goldenstedt (Hamburg) / Prof. Helge Peukert (Siegen) / Markus Schmidt (Limburg) / Dr. Winfried Wolf (Potsdam) 

Bürgerbahn – Denkfabrik für eine starke Schiene wird unterstützt von den folgenden Bahn-Initiativen: Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21, Aktionsgemeinschaft Inselbahnhof Lindau / Prellbock Altona

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2 Kommentare zu “Stuttgart – München: Trotz Neubaustrecke nicht schneller als vor einem Vierteljahrhundert

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