»Koste es, was es wolle« – wie die Überzentralisierung der Betriebssteuerung der DB der Bahn schadet
Eine der Hinterlassenschaften der Ära Mehdorn ist die Konzentration der Fahrdienstleiter der DB für das gesamte Streckennetz in 7 Betriebsleitzentralen (BLZ). Die befinden sich in Hannover für den Bereich Nord, in Berlin für die Region Ost, in Leipzig für die Region Südost, in Duisburg für die Region West, in Karlsruhe für die Region Südwest, in München für die Region Süd und in Frankfurt für die Region Mitte – Frankfurt ist zudem die übergeordneten Netzleitzentrale für das gesamte DB-Netz und hat die ehemalige zentrale Transportleitung in Mainz abgelöst.
Die BLZ Nord steuert den Eisenbahnverkehr in den Bundesländern Schleswig-Holstein, Hamburg, Bremen und Niedersachsen von Oebisfelde an der ehemaligen DDR-Grenze bis zur niederländischen Grenze, von Eichenberg im Süden bis zur dänischen Grenze. Sie umfasst 3.900 ehemalige Stellwerke, 6.500 km elektrifizierte Bahnstrecken, 3.700 Brücken und rund 10.000 Weichen. An dreißig Fahrleitertischen sitzen in einer abgedunkelten Zentrale rund um die Uhr Fahrdienstleiter vor jeweils 10 Bildschirmen und haben dort alle Weichen und Signale ihres Bezirkes im Auge. Dazu zählen in der BLZ Hannover auch die Bahnknotenpunkte Bremen und Hamburg, mit Ausnahme der Hafenbahn und der Gleichstrom-S-Bahn Hamburg, deren Fahrdienstleiter noch vor Ort sitzen. Natürlich wurden im Rahmen der Zentralisierung nicht alle Stellwerke vor Ort abgebaut, sondern diese Stellwerke werden aus Hannover ferngesteuert, dazu zählen auch die Ansagen auf den Bahnsteigen (mit Ausnahme des Hamburger Hauptbahnhofes, der noch ein eigenes »Ansagerecht« hat). Das erklärt auch die häufig völlig wirren Ansagen, die mit der realen Lage vor Ort nicht übereinstimmen.
Die überzentralisierten Leitzentralen mit 200 bis 400 (Berlin und Leipzig) Fahrdienstleitern mögen mit ihren riesigen Serverkellern, irren Kabelsträngen, großen Notstromaggregaten und in vielfältigen Farben flimmernden und blinkenden Bildschirmen mit einer – für den Laien – unüberschaubaren Zahl von Zugnummern und wirren Zeit-Weg-Diagrammen ein Highlight für Computerfreaks sein, in der Praxis erweisen sie sich zunehmend als kontraproduktiv. Zum einen sind immer weniger Fahrdienstleiter bereit, aus der »Provinz« – besser: ihrer Heimatregion – zu den zentralen Standorten zu ziehen, zum anderen bedarf diese zentrale Steuerung irrer Mengen an Kabeln, da alle dezentralen Stellwerke redundant mit der Zentrale verbunden sind. Und jede neue Weiche muss nicht nur mit dem lokalen Stellwerk, sondern auch mit der BLZ per Kabel verbunden werden. Diese Kabelmengen sind auch ein Störfaktor erster Güte, und wenn es zu einer Störung auf einem der dezentralen – aber zwischenzeitlich nicht mehr mit Personen besetzten – Stellwerke kommt, dann muss jemand aus der Zentrale in das Stellwerk geschickt werden. Dann heißt es auf Teufel komm raus und »koste es, was es wolle« einen Fahrdienstleiter, der am Stelltisch in der Zentrale für die Region verantwortlich ist, ins Taxi zu setzen und zu dem gestörten Stellwerk zu fahren. Das kann, wenn sich der Störfall zum Beispiel in einem Stellwerk in Lübeck oder Kiel ereignet hat, schon einige Stunden dauern. Kein Wunder, dass die Zahl und die Dauer der Stellwerksstörungen in den letzten Jahren so zugenommen haben.
Hinzu kommt: die ältere Generation der aus den dezentralen Stellwerken kommenden Fahrdienstleiter bringt zum Glück noch Ortskenntnisse mit. Aber die jüngeren, nach nur zweijähriger Ausbildung und halbjähriger Einweisung in ihre Stellwerksregion an die Stelltische gesetzten Fahrdienstleiter kennen die Lage vor Ort bestenfalls durch einen Kurzbesuch, aber nicht mehr aus langjähriger Erfahrung und in allen Einzelheiten und Tücken. Dann fällt Improvisation aus, was die hochgradig automatisierten Systeme sowieso in der Regel immer weniger zulassen, und es wird starr nach Betriebsanleitung verfahren.
In den BLZen gibt es eine straffe Hierarchie, auf deren unterster Stufe die Fahrdienstleiter stehen. Über diesen stehen die Zugdisponenten, die die Reihenfolge der Züge festlegen und den Fahrdienstleistern Weisungen erteilen. Darüber thronen die Bereichsdisponenten, die Weisungen an die Zugdisponenten erteilen, der Netzkoordinator und an der Spitze der Schichtleiter. Kommt es zu einer Großstörung, ist dafür ein Störfallkoordinator zuständig, der die Zusammenarbeit mit den Rettungsdiensten und der Polizei, aber auch die Kommunikation zur Politik und zu den Medien koordiniert. Teilweise werden, insbesondere an Wochenenden, in diesem System 12-Stunden-Schichten gefahren. So lange und bei störfallfreiem Betrieb meist passiv untätig auf flimmernde Bildschirme zu starren verlangt schon eine hohe Stressresistenz. Gleichzeitig ist aber im Falle unerwartet auftretender Störungen auch eine hohe Entscheidungsbereitschaft gefragt.
Es ist zwar nett, in Hannover aktuell oder auch noch zwei Tage später am Bildschirm ablesen zu können, wann welche Weiche bei der Einfahrt zum Beispiel in die Hamburger Hafenbahn wie gestanden hat – alles wird elektronisch protokolliert –, aber ob diese Überzentralisierung wirklich dem besseren Funktionieren der Bahn dient, ist zweifelhaft. Diese Erkenntnis scheint sich bei den Eisenbahnern, die tagtäglich die Verantwortung für das Funktionieren dieses Systems tragen, langsam auch durchzusetzen. Das heißt aber nicht, dass diese Erkenntnis auch den Bahnvorstand erreicht.
Letztendlich sind es diese rund 2.000 Fahrdienstleiter und Disponenten, die den Bahnbetrieb 24/7 am Laufen halten. Sie leiden auch am meisten unter der Politik des Bahnvorstandes in den vergangenen Jahrzehnten, Ausweichstrecken und Überholgleise stillzulegen und Weichen rauszureißen, weil jede Weiche nicht nur Kosten für den Stahl und den Antrieb verursacht, sondern, was weit komplexer und obendrein teuer ist, sie nebst dazugehörendem Signal in die hochkomplexe Software in der BLZ eingebunden werden muss, damit sie auch an der richtigen Stelle und in der richtigen Funktion auf dem bunten Bildschirm des Fahrdienstleiters erscheint.