Der Kern der Lösung
Als im November 2015 Ronald Pofalla die geplante Abschaffung der DB-Nachtzüge ausplauderte (im Sonderzug zum Pariser Klimagipfel und mit der Begründung, wegen der hohen Nachfrage wolle man ICEs einsetzen – man kann diese Absurdität gar nicht oft genug erwähnen), wurden die Österreichischen Bundesbahnen (ÖBB) sofort aktiv, kauften der DB alle 42 Schlafwagen aus den 2000er Jahren, 15 behindertenfreundlichen Liegewagen und das 1:1-Modell eines neuen Liegewagen-Designs ab und arbeiteten auf die Übernahme einiger DB-Nachtzuglinien zum Dezember 2016 hin.
Vorstandsvorsitzender der ÖBB war damals – seit 2010 und bis zu seiner Vereidigung als Bundeskanzler im Mai 2016 – Christian Kern. Seit September 2022 ist er Chef einer Leasinggesellschaft für Schienenfahrzeuge.
In der ZEIT 05/2025 wurde er zum Thema Bahn interviewt.
https://www.zeit.de/2025/05/deutsche-bahn-christian-kern-ideen-verbesserung
Die erste Frage betraf seinen Blick auf die Deutsche Bahn. Er betrachte sie mit »Sorgenfalten, weil der Zustand so schlecht ist« und wurde als nächstes natürlich gefragt, warum es denn bei den ÖBB besser laufe:
Weil wir viel geändert haben in den vergangenen Jahren. Bahnfahren war auch in Österreich nicht immer schön. Als ich die ÖBB im Jahr 2010 für die folgenden sechs Jahre übernommen habe, waren sie ein Sanierungsfall. Das Management hat Geld verbrannt, die Züge waren unpünktlich, die Mitarbeiter frustriert, die Organisation ein Chaos und viele Kunden nicht zufrieden.
Die ZEIT sekundierte:
Man kann das im damaligen Bericht des österreichischen Rechnungshofes nachlesen. Er klingt, als handele er von der DB heute.
Und wie haben die Österreicher den »Turnaround« geschafft?
Zum einen durch eine gewisse Einsicht in die Realität:
Alle wussten, dass unangenehme Dinge auf uns zukommen, also konnte ich sie durchsetzen.
Neben dem Streichen einiger defizitärer Verbindungen betraf das vor allem die Halbierung des Managements.
Halbierung. Das ist mal eine Hausnummer.
Die ZEIT fragte nach, wie das klappte, wo doch jede Partei ihre Leute untergebracht hatte:
Ich erinnere mich, dass ich bald nach dem Start den Fraktionschef der ÖVP angerufen habe und zu ihm sagte: Ich werfe jetzt 15 Leute raus, die den Konservativen zugerechnet werden. Der war natürlich nicht einverstanden.
Ich habe ihm gesagt: Wir können das gern auf einer Bühne vor der Öffentlichkeit diskutieren. Ich werde dann erklären, warum ich diese Leute für seine Plüschtiere halte, die ungeeignet sind und nur den Laden behindern. Nach einer Stunde war sein Widerstand dahin. Ich warf die Leute raus.
Mag sein, dass ich da nicht ganz unbefangen bin, aber vor meinem geistigen Auge erscheint da Ronald Pofalla als Musterexemplar. Kern sorgte aber auch für die Entlassung sozialdemokratischer »Plüschtiere« und berichtet von seinem Versuch, das Verständnis des Mitarbeiters für ihre Arbeit und ihre Aufgaben zu ändern:
Ein Schlüsselerlebnis war für mich ein Gespräch mit dem Infrastrukturvorstand. Ich habe den Kollegen gefragt, wie viele Kunden er eigentlich hat. Er meinte: 39. Ich antwortete: Das ist nicht dein Ernst?! Eure Kunden sind doch nicht die 39 Bahnunternehmen, die auf ÖBB-Schienen fahren, sondern die 250 Millionen Kunden, die jedes Jahr eine Fahrkarte in Österreich kaufen. Ihr seid mitverantwortlich dafür, dass die zufrieden aus den Zügen steigen!
Das ist das genaue Gegenteil dessen, was die DB-Konzernspitze in diesen Zeiten nach unten weitergab, ich schrieb schon verschiedentlich darüber. Wir Bahner auf der Schiene sahen natürlich die Fahrgäste als unsere Kunden an – und als uns in den DB-Schulungen eingeimpft werden sollte, dass das grottenfalsch sei, denn unser Kunde als Serviceunternehmen DB ERS sei die Muttergesellschaft DB Autozug, später DB Fernverkehr, merkte man deutlich, dass an diesem Punkt viele Kolleginnen und Kollegen weitere Versuche der Gehirnwäsche abblockten.
Ich kann mir vorstellen, dass es den Fahrpersonalen bei DB Fernverkehr und DB Regio ähnlich erging, denn in den letzten Jahren, als die hausgemachten Mängel beim besten Willen nicht mehr zu kaschieren waren, wird ja immer öfter von Reisenden und in den Medien berichtet, dass aus dem Bordlautsprecher bei Störungen nicht mehr die Sprechvorgabe des Bahnkonzerns heruntergeleiert wird, sondern dass mit einem großen Drang nach Ehrlichkeit und Anflügen von Galgenhumor die Reisenden in einer Weise angesprochen werden, die Sympathie und Solidarität zwischen Reisenden und Servicepersonal wachsen lässt. Reisende und Personale als Verbündete im Kampf gegen das Management – eine Horrorvorstellung für DB-Vorstände, die von McKinsey, aus Anwaltskanzleien, aus der Flugzeug- oder Autoindustrie oder wie Herr Pofalla aus dem Kanzleramt kamen.
Anekdote am Rande: Der allererste Chef des Bundeskanzleramtes (1949-1951) ist übrigens in die Bahngeschichte eingegangen, weil er in seinem späteren Amt als Familienminister (1953-1962) die Einführung der von März 1956 bis Dezember 1992 geltenden »Fahrpreisermäßigung für kinderreiche Familien« vorantrieb. Folglich war der Berechtigungsausweis – er galt bei mindestens drei Kindern – schlicht als »Wuermeling« bekannt, wenn man nicht gleich »Karnickelpass« dazu sagte: https://de.wikipedia.org/wiki/Wuermeling-Pass
Ronald Pofalla hingegen hat sich bahntechnisch durch die »Pofalla-Wende« verewigt, bei der verspätete Züge nicht bis zum Endbahnhof fahren, sondern schon früher enden, um dann von dort »pünktlich« zurückzufahren – typischerweise müssen Reisende in Köln sich dann irgendwie rechtzeitig nach Düsseldorf durchschlagen oder eben eine Stunde warten in der Hoffnung, dass der nächste Zug Berlin-Köln-Berlin nicht auch noch die »Pofalla-Wende« macht.
Zurück zum ZEIT-Interview. Natürlich werden auch ein paar kernige Sprüche rausgehauen:
Kern: … die Infrastruktur ist das am schwierigsten zu lösende Problem. Wenn du aus Österreich über die deutsche Grenze fährst bei Salzburg, dann ist das, als ob du vom Silicon Valley in die wilde Prärie kommst, da ist nur noch Lederhose, kein Laptop.
ZEIT: Der Railjet, also der österreichische ICE, trödelt nach dem Grenzübertritt langsam dahin …
Kern: … und die nächsten 40 Minuten kannst du auch nicht mehr telefonieren. Eine unfreiwillig kontemplative Erfahrung. Es ist für einen Österreicher unbegreifbar, warum man das so vernachlässigt hat, trotz all der Jahre mit niedrigen Zinsen.
Wenn ich es begreifbar machen sollte, würden mir neben der Schuldenbremse als Stichwörter Wolfsburg, Ingolstadt, München, Untertürkheim, Zuffenhausen und Rüsselsheim einfallen, außerdem bezeichnete sich der jetzige »Gazprom-Gerd« 1999 in der Daimler-Zentrale als »Kanzler aller Autos«. Da wundert man sich nicht über die Unterschiede:
In Österreich wird zum einen seit je mehr von der öffentlichen Hand investiert. Bei den ÖBB etwa bekommen wir Mittel immer für sechs Jahre garantiert, also nicht bloß für eine Legislaturperiode, und es wird auch fast dreimal so viel pro Bürger in die Schiene investiert. Die Deutschen fokussieren sehr viel stärker auf die Schuldenbremse. Das sogenannte Deutsche Eck zwischen Salzburg und Kufstein ist der Beweis für diese Hypothese.
Es folgt die nächste Pointe des Interviews. Die ZEIT, voll dem DB-Mantra auf den Leim gegangen, hebt zur Lobpreisung der Korridorsanierung an:
ZEIT: Immerhin wird jetzt angepackt, mit den sogenannten Korridorsanierungen. Insgesamt 30 viel befahrene Streckenabschnitte sollen jeweils binnen weniger Monate komplett saniert werden.
Und dann kommt der Fachmann daher und lässt die Luft aus der Konzernsprechblase:
Diese radikale Maßnahme ist natürlich ein Offenbarungseid. Wer so etwas machen muss, hat zuvor alles verkommen lassen. Und leider ist diese Methode ein Desaster für den Bahnverkehr insgesamt: Unsere österreichischen Güterverkehre etwa können demnächst nicht mehr über Passau, sondern müssen über Tschechien und Polen fahren, das kostet ein Vielfaches mehr.
Die ZEIT ist entgeistert. Man hat ihr doch im Bahntower alles so schön und als alternativlos dargestellt:
ZEIT: Aber wie soll die DB ihr Netz renovieren? Die radikalen Maßnahmen erscheinen plausibel.
Nochmal der Fachmann mit Zahlen und Fakten:
Ich glaube nicht, dass sich dieses radikale Konzept durchhalten lässt, weil Passagiere wie Güterverkehrskunden dann eben auf die Straße umsteigen, spätestens wenn zwei oder drei dieser Projekte sich verzögern. Zumal Deutschland in der Situation auch noch 87 Prozent mehr Netzentgelt oben draufschlägt. Das ist absurd. Der Druck, wieder herkömmlich zu bauen, also die Sanierung im laufenden Betrieb, wird dann wieder groß werden.
Der nächste (ehemalige) Bahnchef, der dasselbe sagt wie Bürgerbahn: Generalsanierung ist Generalunfug. Er sieht aber noch Hoffnung:
Ich bin Optimist. Stellen Sie sich vor, was passiert, wenn die Deutsche Bahn die Finanzierung bekommt, die sie bräuchte. Und zwar zuverlässig, unabhängig von den jeweiligen Wahlergebnissen. Und wenn dann noch die Struktur radikal aufgeräumt werden würde, es klare Verantwortlichkeiten gäbe und jeder an den Kunden dächte. Ich halte das für möglich, denn bei allen Problemen: Die DB hat exzellente Leute. Jeder Bahner in Europa, ich auch, hat Respekt, wie die Mitarbeiter der DB den Betrieb derzeit doch noch irgendwie aufrechterhalten, trotz all der widrigen Umstände.