rail blog 40 / Werner Sauerborn

Beitrag auf der PK zur Vorstellung des Alternativen Geschäftsberichtes

Dem Bericht des Bundesrechnungshofs zufolge ist die Bahn beinahe insolvent, der Alternative Geschäftsbericht heute beschreibt das Drama in allen Facetten. Inbegriff (im Sinne von alles einbegreifend) und Sinnbild all dessen ist Stuttgart 21. Es ist Ausdruck der falschen Strategie, auf Rennstrecken und Prestigeprojekte zu setzen – mit den bekannten Folgen von Verspätungen Zugausfällen, strukturelle Unzuverlässigkeit eines Systems, auf das wir mal stolz waren.

Umgekehrt zeigt auch das unbeirrte Festhalten an dem Irrtum S21 und den vielen vergleichbaren Projekten – gerade macht die 2. S-Bahn-Stammstrecke in München mit extremen Kostensteigerungen Schlagzeilen – dass allen Beteuerungen, verstanden zu haben, kein Glaube geschenkt werden kann.

Je näher der mutmaßliche Fertigstellungstermin rückt, desto sichtbarer poppen all die Defizite und Widersprüche auf, auf die Kritiker*innen von Anfang an hingewiesen haben, dazu gehörten zu ihren besseren Zeiten ja auch Herr Kretschmann und Verkehrsminister Herrmann.

Ich will das an vier aktuellen Beispielen erläutern:

Ein planerischer Offenbarungseid sind die sogenannten Ergänzungsprojekte.

So nennen sich vier im grün-schwarzen Koalitionsvertrag von 2021 verankerte, weitere Tunnelprojekte, die die Untergrabung von Stuttgart mit weiteren 47 km auf dann 106 km steigern würden. Mitten in der sich zuspitzenden Erderhitzung nochmal Hundertausende Tonnen Treibhausgase durch exzessiven Einsatz von Stahl und Beton sowie weitere Milliarden Mehrkosten!

Stuttgart21 „ergänzen“ klingt nach Zusatznutzen, ist aber nichts anderes als der Versuch, zu retten, was nicht mehr zu retten ist. Wieder würden S21-Kosten, teils versteckt in anderen Haushalten (Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz – und als Beschleunigungsprojekte – im Bundesschienenwegeausbaugesetz) zulasten vieler sinnvoller Bahnprojekte bundesweit abgewälzt.

Eines dieser vier Projekte ist – inzwischen kann man sagen: war – des Landesverkehrsministers Winfried Hermanns Idee eines S21-ergänzenden, 6-gleisigen unterirdischen Kopfbahnhofs. Oben soll ein funktionierender Kopfbahnhof abgerissen werden und darunter sollte ein verkleinerter neu an S21 angeflanscht werden: Ein offenes Eingeständnis, dass die 8 Gleise von Stuttgart21 niemals die 16 + x Gleise des jetzigenKopfbahnhofs ersetzen können.

Die Idee war so abwegig, dass Hermann sie freiwillig vor kurzem aus dem Verkehr zog. Das Kapazitätsproblem ist damit natürlich nicht gelöst.

2. Die nächste Luftnummer, die jetzt alle Probleme lösen soll, heißt ETCS bzw. digitaler Knoten Stuttgart. Hätte man doch auf die Erfahrungen der Schweiz gehört! Dort hat die Einführung von ETCS step by step 20 Jahre gebraucht. Level 1 in der Fläche und – sehr kompliziert – Level zwei an neuralgischen Punkten. Und das alles unter rollendem Rad.

In Stuttgart soll das nun mit der Brechstange laufen – und prompt bricht wieder Chaos aus. Zentrale Zulaufstrecken sollen tageweise, teils wochenlang komplett gesperrt werden. Protest in vielen Gemeinderäten in Stuttgart und Umfeld, die von der kurzfristigen Ankündigung kalt erwischt wurden. Gerade hat sich ein breites Bürgerbündnis von DGB bis Unternehmer*innen, Verkehrsinitiativen, Behindertenverbänden und S21-Gegner*innen formiert, das zu einer Großdemo am 14. April aufgerufen hat, um die Sperrungen und damit das drohende Verkehrschaos zu stoppen.

Beseelt von blindem Fortschrittsglauben und getrieben von dem unrealistischen Eröffnungstermin Ende 2025, haben die Bahnplaner auch die Erfahrungen und Warnungen ihrer Kollegen von der SBB ignoriert:

Vincent Ducrot, CEO der SBB erteilt in der Zeitschrift Bahnreport von Mitte 2020 der schweizweiten Einführung der ETCS Level 2 + 3 eine eindeutige Absage: „Wir wollen nicht in eine Technologie einsteigen, die komplett neu ist. Wir setzen auf das Erprobte.“

Frage des Interviewers: „Seit einigen Jahren wissen wir, dass die ETCS Level 2 keinen nennenswerten Sicherheitsgewinn bringt, und dass sich die heutige betriebliche Kapazität auf stark belasteten Schweizer Strecken gar nicht aufrecht erhalten lässt.“

Antwort Ducrot: „Wenn man zwanzig Jahre an einer Technik arbeitet und sie nicht zuverlässig hinkriegt, dann stimmt etwas nicht. In anderen Branchen wäre sie schon lange abgeschrieben und ersetzt“.

3. Ein weiteres aktuelles Beispiel, an dem das S21 Drama besonders sichtbar wird, ist der Anschluss der Gäubahnstrecke von Zürich/Schweiz über Singen an den Stuttgarter Hauptbahnhof. Die landschaftlich schöne Panoramastrecke, das letzte Teilstück der Gäubahn vor dem Stuttgarter Hauptbahnhof, soll mit Inbetriebnahme des Tiefbahnhofs abgeschnitten werden, um nach Abriss des Gleisvorfelds den neuen Stadtteil bauen zu können. Nebenbei: angesichts der Aufhitzung des Stuttgarter Talkessels ist auch dies klimapolitisch unverantwortlich.

Die Reisenden von nah und fern müssten dann für 10 oder noch mehr Jahre mit S-Bahnen und U-Bahnen zum Tiefbahnhof und in die Stuttgarter Innenstadt gelangen. Und das nur, weil die Gäubahn künftig nicht mehr direkt über die Panoramastrecke zum Hauptbahnhof geführt würde, sondern den Umweg über den Stuttgarter Flughafen nehmen soll. Dieser Umweg, verbunden mit dem Bau eines Flughafentiefbahnhofs, soll die hoch gesteckten Ziele des Flugverkehrs (auch hier Stichwort Klima) von Stuttgart aus verwirklichen.

Die ursprüngliche Planung, den Gäubahn-Verkehr incl. ICEs von Südwest über die schon überlastete S-Bahntrasse zum Flughafen zu leiten, musste nach gut 20 Jahren Planung verworfen werden – gescheitert an massiven Bürgerprotesten, technischen Machbarkeitsproblemen und der verweigerten Planfeststellung durch das Eisenbahn-Bundesamt.

Als vermeintlicher Ausweg wird jetzt mit Hochdruck das „Ergänzungsprojekt“ Pfaffensteigtunnel geplant. 2x 12 km klimabelastende Tunnel, die den Fluggastzahlen des Stuttgarter Flughafens (Klima!) weiter steigern sollen. Bauzeit bis Ende der 30er Jahre. S21-Eröffnung Ende 2025?

Auch bei Stuttgart21 II, so der Sammelbegriff für die Ergänzungsprojekte, die typische Vorgehensweise: massives Herunterrechnen der Kosten, Ignorierung der Klimabelastungen und Lügen, wie etwa die Behauptung, der Tunnel mache S21 deutschlandtaktfähig. Dabei ist der entscheidende Engpass der Tiefbahnhof-Flaschenhals. Eine betrügerische Behauptung ist auch, wenn zum Nachweis der Wirtschaftlichkeit des Projekts Güterzüge eingerechnet werden, die aber auf diesem Streckenabschnitt gar nicht fahren könnten. Mit diesem Trick hatte man schon eine Wirtschaftlichkeit die Neubaustrecke Wendlingen-Ulm errechnet, auf der auch keine Güterzüge fahren können.

4. Zu den größten Fallstricken für eine Fertigstellung zählt der Brandschutz. Die rechtzeitige Evakuierung eines mit der Referenzgröße von 1757Personen besetzten, brennenden Doppelstockzuges ist in den steilen (Kamineffekt) und langen S21-Tunneln faktisch ausgeschlossen. Die Fliehenden hätten keine Chance, den sich bei Vollbrand innerhalb von 10 Minuten vollständig ausbreitenden tödlichen Rauchgasen zu entkommen.

Damit das ungelöste und – anders als beim BER – auch nicht mehr lösbare Brandschutzproblem den Weiterbau nicht behindert, soll darüber erst bei Fertigstellung mit der Inbetriebnahme-Genehmigung entschieden werden. Bis dahin soll weiter gebaut und verdient werden – das Risiko eines Projektabbruchs am Ende tragen die Projektpartner bzw. die Steuerzahlenden.

Stuttgart21 ist sehr zu Unrecht aus den großen Schlagzeilen verschwunden. Das betrifft nicht nur das Projekt selbst, sondern auch den Widerstand dagegen: Die Bürgerbewegung gegen das Projekt ist höchst lebendig und in ihren Strukturen seit Jahren stabil.

Es gibt das effizient arbeitende Aktionsbündnis gegen Stuttgart21 mit 16 Mitgliedsgruppen, es gibt weiterhin Montagsdemos, inzwischen schon über 650, mit viel Infos und Kultur weit über S21 hinaus. Es gibt die regelmäßig doppelt besetzte Mahnwache gegenüber dem Hauptbahnhof sowie viele weitere (Fach-)gruppen. Immer stärker sehen auch die jungen Klimaaktivist*innen, welche Schäden das Projekt klimatechnisch anrichtet.

Die Bürgerbewegung vertritt ein Konversionsprojekt namens Umstieg21. Devise: wenn Du auf dem Holzweg bist, geh nicht weiter, kehr um! Es sieht im Kern die Beibehaltung und Erweiterung des Kopfbahnhofs und die Nutzung der S21-Infrastruktur für ein System automatisierter unterirdischer Güterlogistik www.umstieg21.de vor.

Die beste Alternative und der Protest allein werden das Projekt nicht stoppen. Erst der Zusammenhang mit seinen massiven inneren Widersprüchen wird, davon sind wir überzeugt, so oder so das Ende des Projekts erzwingen.

Über Werner Sauerborn

Dr. rer. soc. *1949, Geschäftsführer des Aktionsbündnis gegen Stuttgart21, dort Vertreter der „Gewerkschafter*innen gegen Stuttgart 21“. Zuvor wiss. Mitarbeiter FU Berlin, Otto-Suhr-Institut, Forschung zur Privatisierung Öffentlicher Dienstleistungen, Gewerkschaftssekretär bei ötv bzw. ver.di im Bereich Politik und Planung

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