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Tempolimits: Mehr Kompetenz für Kommunen

Bürgerbahn und die allgemeine Verkehrspolitik

Normalerweise widmet sich Bürgerbahn vor allem den direkten Fragen deutscher und manchmal auch internationaler Bahnpolitik. Die anderen verkehrspolitischen Themen rund um den Ortsverkehr werden nicht oder nur am Rande behandelt. Die aktuelle Debatte um die Novellierung des Straßenverkehrsgesetzes und der Straßenverkehrsordnung und um erweiterte Kompetenzen der Kommunen hat aber eine so hohe allgemeinpolitische Relevanz, dass sich Bürgerbahn auch diesbezüglich positionieren will.

Kommunen fordern mehr Kompetenz für Tempolimits

Seit vielen Jahren drängen Städte und Gemeinden, dass der Bund den Kommunen im Straßenverkehrsgesetz (StVG) und der Straßenverkehrsordnung (StVO) mehr Kompetenzen für eigene, kreative Lösungen auch auf klassifizierten Hauptverkehrsstraßen in Baulastträgerschaft des Bundes, der Länder und der Kreise einräumt. Mittlerweile umfasst das Netzwerk von Kommunen, die Spielräume für Tempo-30-Maßnahmen auf Ortsdurchfahrten klassifizierter Straßen fordern, mehr als 800 Kommunen. Sie wollen formal „eigener Herr“ über ihre Ortsdurchfahrten werden, um dort lineare Tempo-30-Regelungen einführen zu können.

Diese Frage zeigt, dass die Rolle der Kommunen in unserem Staat gegenüber der Bundes- und Landesgesetzgebung unzureichend ist. Zwar haben die großen Städte über den Deutschen Städtetag, die kleinen Städte und ländlichen Gemeinden über den Deutschen Städte- und Gemeindebund und die Landkreise über den Deutschen Landkreistag als kommunale Spitzenverbände die Gelegenheit, im Vorfeld von Gesetzgebungsverfahren und Novellierungen mitzuwirken. Aber dabei haben sie immer eine sekundäre Rolle. Deswegen kommt es immer wieder dazu, dass die Belange der kommunalen Ebene in Gesetzgebungserfahren ignoriert werden. Der Frust darüber hat jetzt eben zu Bildung eines schnell wachsenden Netzwerkes der Kommunen geführt. Der Bund darf dieses Netzwerk nicht länger ignorieren.

Zentrale Frage Tempolimits vor dem Hintergrund von 50 Jahren Verkehrsberuhigung

Der Streit des Netzwerkes mit dem Bundesverkehrsminister bezieht sich vor allem auf die Frage der Tempolimits auf Ortsdurchfahrten. Minister Wissing reklamiert wie seine Amtsvorgänger immer noch den generellen Grundsatz der StVO, dass Tempo 50 die sog. „Regelgeschwindigkeit“ im Innerortsbereich bleibt und tiefere Limits besonders zu begründende Ausnahme bleiben. Damit ignoriert er die mittlerweile gut 50 Jahre deutscher und internationaler Erfahrungen mit dem Thema Verkehrsberuhigung. Die besagen aus Gründen der Verkehrssicherheit und des Wohnumfeldschutzes und Umweltschutzes, dass 50 km/h für angebaute Innerortsstraßen immer zu schnell ist und ein wesentlicher Grund ist, warum Tempo 50 den Fuß- und Radverkehr in Deutschland stark behindert und gefährdet und die Wohnumfeldqualität an Ortsdurchfahrten ruiniert. Nur in einer mühsamen Salamitaktik ist es in den letzten 50 Jahren schrittweise gelungen, die Tempofrage neu aufzurollen.

Verkehrsberuhigter Bereich als Anfang

Es begann mit der Legalisierung des Verkehrsberuhigten Bereiches als intensivste Temporeduktion auf Schrittgeschwindigkeit mit der Option einer gemeinsamen Mischnutzung des gesamten Straßenraums durch Fuß-, Rad- und Kfz-Verkehr. Leider wurde der Verkehrsberuhigte Bereich in dem meisten Kommunen nur als seltene Ausnahme punktuell eingesetzt, daraus sind nur selten zusammenhängende Netze gebildet worden, obwohl das Städtebauministerium, das Umweltbundesamt und die Bundesanstalt für Straßenwesen mit ihrem Modellvorhaben „Flächenhafte Verkehrsberuhigung“ eine breite, systematische und netzbildende Anwendung empfohlen hatten.

Allmählicher Boom bei Tempo 30 Zonen

Es folge dann Ende der 1970er Jahre der allmählich zunehmende Boom bei Tempo-30-Zonen, zunächst noch mit hohen Auflagen an bauliche Maßnahmen und in Gestalt eher kleiner Bereiche, später dann mit immer weniger Auflagen und stattdessen mit der Forderung, kommunale Tempo-30-Konzepte zu entwickeln und dann in großer Zahl und in allen Wohngebieten Tempo-30-Zonen einzurichten. Dem sind dann peu à peu die meisten Kommunen nachgekommen, sodass mittlerweile bezogen auf das gesamte kommunale Straßennetz im Durchschnitt ca. 60-70 % aller Innerortsstraßen mit Tempo-30-Zonenregelungen belegt sind. Daraus folgerte schon Ende der 1980er Jahre der Deutsche Städtetag eine generelle Änderung der Innenortshöchstgeschwindigkeit auf 30 km/h. Aber Bund und Länder blieben bei ihrer Beibehaltung von Tempo 50 als sogenannter „Regelgeschwindigkeit“ in der StVO.

Geschwindigkeitsdämpfung auf Ortsdurchfahrten klassifizierter Straßen

Ende der 1980er Jahre begann dann das Nachdenken über die Absenkung der Höchstgeschwindigkeiten auch auf innerörtlichen Hautverkehrsstraßen. Hierzu wurden erste Modellvorhaben gestartet, so z. B. in NRW mit dem Titel „Geschwindigkeitsdämpfung auf Ortsdurchfahrten“ und „Städtebauliche Integration von Hauptverkehrsstraßen“. Dabei wurde klar, dass die Gestaltung von Ortsdurchfahrten und innerörtlichen Hauptverkehrsstraßen mehr Rücksicht auf die Belange des Fußverkehrs, des Radverkehrs und des Aufenthalts nehmen muss und dass dabei auch viel mehr Querungshilfen nötig sind. Leider wurde aber anders als bei den Tempo-30-Zonen aus solchen Ansätzen kein Flächenbrand, die meisten Ortsdurchfahrten klassifizierter Straßen bleiben bei Tempo 50 und ohne die eigentlich dringend erforderlichen Verbesserungen der Verkehrssicherheit und des Straßenumfeldes. Sie behielten daher die höchsten Unfallbelastungen und extremen Lärm- und Luftschadstoffbelastungen.

Ausnahmen nur für besonders schutzbedürftige Punkte

Trotzdem bleiben die Verkehrsministerien des Bundes und der Länder bei ihrer sturen Beharrung auf Tempo 50 als Regelgeschwindigkeit und der Beschränkung von Tempo-30-Maßnahmen auf lediglich punktuellem Einsatz an besonderen Gefahrenstellen und besonders schutzbedürftigen Teilabschnitten wegen an den Ortsdurchfahrten liegenden Kindergärten, Schulen, Kliniken oder Altenheimen oder besonderen Engstellen oder scharfen Kurven. Es macht aber angesichts der Struktur kommunaler Straßennetze mit einem meist eher geringen Netzanteil der klassifizierten Straßen und anderen innerörtlichen Hauptverkehrsstraßen vom oft nur noch maximal 10 % des Gesamtnetzes immer weniger Sinn, die Regelgeschwindigkeit von 50 km/h weiter aufrechtzuerhalten. Denn die faktische Regel liegt angesichts der hohen Netzanteile von Tempo-30-geregelten Straßen längst bei 30 km/h. Also sollte man das Regel-Ausnahmeverhältnis umkehren: 30 ist die Regel und 50 ist die Ausnahme. Immerhin brachte dann endlich 2018 die Verkehrsministerkonferenz das generelle Zugeständnis, dass nicht nur ausnahmsweise, sondern regelmäßig an schutzbedürftigen Einrichtungen wie Schulen, Kindergärten, Kliniken, Spielplätzen punktuelle Tempo-30 Limits erlaubt werden. Weil das aber immer nur kurze Stücke sind, führte das zu dem häufigen Wechsel von Abschnitten mit Tempo 30 und Tempo 50, was gegen den Grundsatz möglichst gleichmäßiger Geschwindigkeitsverläufe verstößt. Zudem ignoriert dieses „Stückwerk“ die ebenfalls besondere Schutzbedürftigkeit der an Ortsdurchfahrten klassifizierter Straßen lebenden Wohnbevölkerung und Läden. Aufgrund der historischen Funktion als alte Hauptstraße findet sich dort vielfach eine besonders dichte Wohnbebauung mit hoher Einwohnerdichte und im Ortskern hoher Ladenkonzentration.

Trotzdem: Ortsdurchfahrten weiter „tabu“ für generelle Tempo-30-Limits

Trotzdem blieb bis heute der Gesetzgeber bei seinem Tabu für generelle Tempo-30-Limits auf Ortsdurchfahrten klassifizierter Straßen. Allenfalls erlaubte er mit Bezug zur Experimentierklausel in der StVO Pilotprojekte mit wissenschaftlicher Begleitung für lineare Tempo-30-Lösungen auf Ortsdurchfahrten klassifizierter Straßen. Damit sind die meisten Kommunen wegen des Vor- und Nachbereitungsaufwandes und des Fehlens eigener Forschungskompetenzen überfordert. Dagegen wehrt sich das Netzwerk der 800 Kommunen. Sie wollen vom mühsamen Ringen um punktuelle Ausnahmeregelungen und aufwändige Modellvorhaben endlich zur regelmäßigen Anwendung von geschwindigkeitsdämpfenden Maßnahmen auf Ortsdurchfahrten klassifizierter Straßen übergehen.

Neuer Hebel aus der Umweltschutzdebatte

Allerdings bieten inzwischen das Klimaschutzgesetz und das Umweltrecht im Bereich von Lärmschutz und Luftreinhaltung neue Spielräume für lineare Tempo-30-Lösungen auf Ortsdurchfahrten auf der Basis von Lärmaktionsplänen und Luftreinhalteplänen. Von dieser Option wurde vor allem in Baden-Württemberg reger Gebrauch gemacht, dort sind mittlerweile viele Ortsdurchfahrten auch linear auf Tempo 30 begrenzt. Inzwischen lassen auch in anderen Bundesländern die Verkehrsbehörden lineare Tempo-30-Regelungen auf der Basis von Lärmaktions- und Luftreinhalteplänen zu, in denen regelmäßig die Ortsdurchfahrten als besondere Problemzonen mit hohen Belastungen erkennbar sind. Leider haben viele Kommen bislang solche Pläne noch nicht erstellt bzw. erarbeiten lassen, weil dazu ja ein entsprechendes aufwändiges Messprogramm gehört. Notfalls kann man auch mit Emissionsmodellierungen in Abhängigkeit von den in der Regel in den Kommunen oder bei den Landesbehörden vorliegenden Kfz-Belastungszahlen (DTV-Werte) für die klassifizierten Straßen entsprechende Begründungen ableiten.

Minister Wissing bleibt trotzdem stur

Bislang ignoriert Bundesverkehrsminister Wissing aber immer noch diese erfreuliche Dynamik und reklamiert weiter den Anspruch des Autovolkes, innerorts mit 50 km/h als Regelgeschwindigkeit fahren zu dürfen. Begründet wird das mit dem Anspruch der auf den klassifizierten Straßen fahrenden Kfz, die überwiegend im überörtlichen Verkehr unterwegs seien. Aus der großen Distanz der Fahrten dieser Verkehrsteilnehmergruppe lasse sich ein besonderer Geschwindigkeitsanspruch ableiten. Das entspreche auch den Überlegungen der FGSV (Forschungsgesellschaft für Straßen- und Verkehrswesen) in deren Empfehlung für die Gestaltung von Straßennetzen.

Unzureichende Beachtung der Anliegerbelange und Nutzungsansprüche

Dabei bleiben die Belange der Anlieger völlig unbeachtet. Auf vielen Ortsdurchfahrten sind wegen der besonderen Netzbedeutung und städtebaulichen Funktion mit Läden, öffentlichen Einrichtungen etc. längs der Ortsdurchfahrten besonders viele Radfahrende und Fußgehende unterwegs. Zudem haben Ortsdurchfahrten in ihren zentralen Abschnitten wegen der besonderen Baudichte und Nutzungsdichte hohe Fußverkehrs- und Aufenthaltsdichten. Und meist gibt es in der Randbebauung der Ortsdurchfahrten eine besondere Massierung von Wohnbevölkerung. Daraus lassen sich besondere Ansprüche auf Ruhe und gute Umweltqualität ableiten. Zu allen diesen Schutzbelangen stehen die hohen Regelgeschwindigkeiten von 50 km/h in deutlichem Widerspruch. Insoweit beruht die Beibehaltung der Regelgeschwindigkeit von 50 km/h auf einer grundlegend falschen Abwägung ohne Würdigung der Netzanteile und Schutzbelange. Besonders verwerflich ist die Ignoranz gegenüber den Belangen der Verkehrssicherheit. Denn auf den Ortsdurchfahrten mit Tempo 50 gibt es regelmäßig die größten Unfallhäufungen mit schweren und tödlichen Unfällen, und der Hauptgrund für das Zustandekommen der Unfälle und ihre Unfallschwere ist fast immer die nicht angepasste Geschwindigkeit. Trotzdem pfeift der Bundesverkehrsmister mit seiner Weigerung offenkundig auf das „Vision Zero-Ziel“ und negiert die Verpflichtung der StVO, auf maximale Sicherheit zu achten – das alles aus Rücksichtnahme auf das angebliche vorrangige Interesse des Autovolkes, auf seinen Wegen im klassifizierten Straßennetz auch innerorts mit unangepassten Geschwindigkeiten voranzukommen.

Geheiligter Verkehrsfluss“ gilt auch für Fuß- und Radverkehr

Oft spielt in den Debatten der Tempofrage der „geheiligte Verkehrsfluss“ eine Rolle, wobei völlig übersehen wird, dass Verkehrsfluss nicht nur ein Anspruch des Kfz-Verkehrs ist, sondern dass auch Fußverkehr und Radverkehr einen angemessenen Verkehrsfluss brauchen. Und auch für deren Verkehrsfluss sind gerade die Ortsdurchfahrten wichtig. Solange die Verkehrspolitik aber den Begriff Verkehrsfluss (Leichtigkeit des Verkehrs) ausschließlich für den Kfz-Verkehr monopolisiert, gibt es keine ausgewogene, gerechte und faire Verkehrspolitik. Das ist symptomatisch für das Autoland Deutschland und die Einseitigkeit seiner Verkehrsjuristen.

Indirekte Effekte von Tempolimits

Alle Tempolimits haben auch wichtige indirekte Effekte und würden einen segensreichen Einfluss auf die weitere Verkehrsentwicklung haben. Sie können den Trend zur Konstruktion und zum Absatz immer größerer, schnellerer, lauterer und durstigerer Autos bremsen. Auch der Trend zu immer breiteren Straßen kann gebremst werden, weil die Entwurfsgeschwindigkeiten abgesenkt werden können. Das vergrößert den Spielraum für schmale Fahrbahnen. Die Kfz-Verkehrskapazität der Ortsdurchfahrten würde sogar wachsen, weil 30 km/h eine leistungsoptimale Geschwindigkeit ist. Dann könnte man sich einen aus Kapazitätsgründen geforderten Straßenneu- und Ausbau sparen. Man hätte Platz für Bäume, Radwege, breitere Fußwege. Die Ortsdurchfahrten könnten endlich wieder ortsgerecht integriert werden.

Vergleichbare Effekte ergeben sich auch aus den für den Außerortsbereich diskutierten Tempolimits von 80 km/h für Landstraßen und 100-120 km/h für Autobahnen. Auch hier würden segensreiche Effekte erreicht. Die Entwurfsmerkmale würden abgespeckt, man könnte viel Geld und schützenswerte Landschaft sparen. Die Umwelt würde entlastet. Der Energieverbrauch würde gesenkt. Die Konstruktionsmerkmale für Kfz würden verschlankt.

Und es ergibt sich auch ein Bezug zur Bahnpolitik. Die politische Relevanz hoher Geschwindigkeiten für die Bahnpolitik würde abgemildert. Der Fixierung auf Hochgeschwindigkeitsstrecken bei Vernachlässigung der Flächen würde ein wichtiges Argument genommen. Um konkurrenzfähige Geschwindigkeiten gegenüber dem Autoverkehr zu erreichen, bräuchte man einen geringeren Infrastrukturaufwand. Man könnte die Standards für den Neu- und Ausbau der Schienennetze absenken, und auch bei der Konstruktion der Schienenfahrzeuge wären die Anforderungen entsprechend geringer. In einem solchen Szenario eines in der Geschwindigkeit gedrosselten Verkehrssystems würden wichtige Verkehrswendeimpulse mobilisiert.

Fazit: Epochenentscheidung zur Zukunft des Verkehrssystems

Mit diesen zusätzlichen Aspekten erhält die Frage von Tempo 30 auf Ortsdurchfahrten klassifizierter Straßen einen weit über die für manche zunächst wohl eher marginale Relevanz hinausgehenden Stellenwert. Das ist sicher auch der Grund, warum sich in kurzer Zeit mittlerweile 800 Kommunen dem Netzwerk angeschlossen haben. Es geht offenbar um eine Grundsatzfrage künftiger Verkehrsentwicklung. Das bestärkt dann auch Bürgerbahn in der Entscheidung, sich dieses Themas anzunehmen.

Über Prof. Dr. Heiner Monheim

(*1946), Geograf, Verkehrs- und Stadtplaner, seit den 1960er Jahren befasst mit den Themen Flächenbahn, Schienenreaktivierungen, Erhalt des IR, S-Bahnausbau und kleine S-Bahnsysteme, Stadt- Umland-Bahnen, neue Haltepunkte, Güter-Regionalbahnen, Bahnreform 2.0, Kritik der Großprojekte der Hochgeschwindigkeit und Bahnhofsspekulation. Details: www.heinermonheim.de

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