3. Die Geschichte der Bahn – ein vorbildliches »Großprojekt« anderer Art

Teil 3 des sechsteiligen Beitrags zu Großprojekten der DB. Hier geht es zu Teil 1 und Teil 2

Auch die Gründerzeit der Bahn war natürlich ein Großprojekt, nur mit ganz anderen konzeptionellen Grundlagen und »Vorzeichen«. Hier waren von Anfang an Systemdenker am Werke, die eine starke Vision von den Notwendigkeiten und Leistungsfähigkeiten einer guten Bahn hatten. Sie bezogen unmittelbar Deutschlands und Europas Raum- und Siedlungsstruktur mit ein.

Darauf orientierten sie ihr Netz. Die deutsche Siedlungsstruktur war durch einen polyzentrischen Raum mit vielen Metropolen, vielen Großstädten und mit diesen eng verflochtenen sekundären Zentren kleiner Großstädte, Klein- und Mittelstädte geprägt. Das erforderte einen breiten Netzansatz mit einem »Maschennetz« aus vielen Strecken und Knoten, um möglichst viele »Fische am Verkehrsmarkt zu fangen«. Angesichts der damals noch hohen Wirtschafts- und Transportbedeutung der Landwirtschaft und der vielen Einwohner in ländlichen Regionen war klar, dass auch alle ländlichen Regionen in ein künftiges Bahnnetz einzubeziehen wären. So entstand sehr bald die Vision von einer Flächenbahn mit dichtem Netz bis in den letzten Winkel.

Bei dem gigantisch breiten Netzausbau war natürlich Wirtschaftlichkeit oberstes Gebot. Man wollte schnell überall investieren, aber immer nur gerade so viel, wie für den Erfolg der Netze nötig war. Deshalb gab es mehrere Spurbreiten, je nachdem, ob es um so genannte Vollbahnen mit Fernstrecken oder Kleinbahnen oder Lokalbahnen mit nur regionaler und lokaler Bedeutung ging. Und oft führte die Sparsamkeit dazu, dass man drei Orte mit nur einem Bahnhof erschloss. So sehr hier im Detail auch der Geiz regierte, so sehr gab es insgesamt doch einen breiten Ehrgeiz, allen Regionen Anschluss zu bieten. Denn man wollte ja universeller Verkehrsdienstleister sein, der an allen Geschäften partizipieren konnte. Aus Kostengründen wurden Bahnstrecken geschickt und sensibel landschaftlich integriert, um die Eingriffe in Relief und Landschaft zu minimieren. Tunnels und Brücken beschränkte man auf die Fälle, wo sich der Abkürzungseffekt wirklich zu rentieren schien. Dagegen sparte man nicht an der gestalterischen Qualität der für das Publikum und die Regionen wichtigen Bauwerke, die man liebevoll ausgestaltete, wie vor allem Bahnhöfe, aber auch Viadukte, Tunnelportale, Bahnwärterhäuschen. Hier wurde Bahnkultur gepflegt. Die Hochbauten der Bahn galten neben dem Design der Fahrzeuge als ihre wichtigste Visitenkarte. Sie wurden liebevoll, kreativ und repräsentativ gestaltet, mit regionaler Architektur, ohne die standardisierte Dutzendware heutiger Einheitsbahnhöfe, mit kulturellem Selbstbewusstsein und Wissen um die hohe Symbolwirkung dieser »Kathedralen des Fortschritts«.

Gespart wurde auch nicht am differenzierten Service, weder bei den Fahrzeugen noch bei den Bahnhöfen. Man wollte die Kundschaft bei Laune halten, je nach Zahlungskraft und Aktionsradius der Bahnen mal mit der volkstümlichen Holzklasse und dem Bahnhofsrestaurant dritter Klasse, mal mit Salonwagen und Spitzengastronomie erster Klasse für die »Betuchten«. Und das alles im ganzen Netz im ganzen Land, zeitweise mit über 4.000 Neubaukilometern und Hunderten von Baustellen jedes Jahr. Das war nun wirklich ein gigantisches Großprojekt, aber eines aus Tausenden von Strecken. Hinter ihm standen visionäre Wirtschafts- und Verkehrsexperten sowie Kapitalgeber wie List, Stephenson, Schumpeter und Hansemann. Sie wussten, dass eine gute Erschließung des Landes mit Bahnen die Wirtschaft beflügeln würde, dass der Bahnanschluss den Regionen Zugang zu neuen Märkten und Arbeitskräften garantierte.

Später kam leider auch das militärische Kalkül dazu, das die deutschen Länder veranlasste, sich auch aus diesem Grunde einem weiteren Ausbau der Bahnen zu widmen, um Truppen und Kanonen schnell an allen Grenzen versammeln zu können.

Jedenfalls herrschte seinerzeit ein tief begründetes Systemdenken: Die Bahnnetze wurden nach Gesichtspunkten nationaler, regionaler und lokaler Rationalitäten ausgebaut. Ausreichender Anschluss durch hohe Netzdichte war gängige Forderung aller Verantwortlichen in Politik und Wirtschaft. Mit dieser Strategie hatte das deutsche Bahnnetz lange Zeit ähnliche Qualitäten, wie wir sie heute noch an der Schweiz rühmen. Und das deutsche Bahnnetz hatte auch ähnliche Erfolge, was die Fahrgastzahlen und Nutzungsfrequenzen anging. Das Bahngeschäft war »eine sichere Bank«, hier wurden Milliarden von Goldmark verdient, die Systemqualität rechnete sich.

Ausbau des deutschen Straßennetzes – ein chronisch prioritäres Großbauprogramm

Das ist leider Geschichte, denn große Teile der Bahnnetze wurden seit den 1950er Jahren zerschlagen. Fast alle Kreis- und Kleinbahnen wurden stillgelegt, ähnlich erging es den vielen kommunalen Straßenbahnen. Und auch die regionalen und überregionalen Bahnnetze wurden geplündert, in großen Teilen nicht mehr ausreichend modernisiert und gepflegt, nicht komplett elektrifiziert, seit den 60er Jahren dann schrittweise auch stillgelegt, weil sich in Bund, Ländern, Regionen und Gemeinden Politik und Ingenieure, Bahnbeamte und Finanzverantwortliche mental von der alten, erfolgreichen Flächenbahn verabschiedet hatten.

Sie wollten nur noch eine kleine, feine Korridorbahn, weil ein großes Netz angeblich viel zu teuer sei. Investitionsprioritäten für die großen Netze hatte jetzt eindeutig die Straße. Ihr galt jetzt der ganze Ausbauehrgeiz, bei Autobahnen und Bundesstraßen, Landesstraßen und Kreisstraßen und auch im Kommunalbereich, in dem dann noch die Investitionen in Parkhäuser, Tiefgaragen und Parkplätze »gewuppt« wurden. Hier gab es einen neuen Systemehrgeiz, der natürlich von der Autolobby auch massiv angestachelt wurde. Schließlich war das Zeitalter der Massenmotorisierung angesagt. Insofern hat hinsichtlich des nationalen, regionalen und lokalen Engagements die Straße die Bahn beerbt und damit leider auch kannibalisiert.

Seit den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts gibt es nur noch Rekordzahlen im Straßenbau und Parkraumbau. Immer weiter wird das Netz verdichtet, weil es angeblich immer noch viel zu viele Lücken, Umwege und Engpässe gab. Das nötige Geld spülten die Automatismen von Erschließungsbeitragsrecht, Mineralölsteuer und Kraftfahrzeugsteuer sowie die ergänzenden Straßenbauetats in den Bundes- und Länderhaushalten in die Kassen der Straßenbaufirmen. Das Geld wurde klaglos für Straßen ausgegeben, ohne dass man von Defiziten und Lasten redete. Die Bedarfs- und Ausbauplanverfahren funktionierten »quasi auf Zuruf«, Abgeordnete übertrumpften sich mit immer neuen Ideen für neue Autobahnen, Bundesstraßen, Entlastungsstraßen und Ortsumgehungen. Und diese Straßenbauorgie ist noch lange nicht zu Ende. 2.400 Anmeldungen zum Bundesverkehrswegeplan 2003 bei Straßen sprechen eine deutliche Sprache. Die 40 zaghaft vorgeschlagenen Schienenprojekte nehmen sich dagegen erbärmlich aus.

Auf diese Weise sind inzwischen ungeheuer dichte Autobahnnetze entstanden, die vor allem auch in den Ballungsräumen und Großstädten mitten in die dicht bebauten Zentren vorstoßen, mit allen negativen Effekten auf Stadtbild und Lebensqualität.

Und weil man inzwischen in den Ballungsräumen und Großstädten mit den brutal durch die Bebauung geschlagenen Stadtautobahnschneisen und ihren extrem angestiegenen Autoverkehrsmengen wachsende Probleme bekommt, gibt es eine beträchtliche Zahl exorbitant teurer Tunnelprojekte, die nach der Logik der »Ortsumgehung nach unten« versuchen, eine Lösung zu finden. Typisches Beispiel sind die vielen Straßentunnel am mittleren Ring in München. Für die Verkehrsentwicklung haben solche Tunnelprojekte meist nachteilige Effekte, weil sie durch ihre Symbolwirkung und die infolge des Wegfalls zahlreicher kleinerer Kreuzungen für die mittleren und großen Distanzen ermöglichten MIV- Reisezeitgewinne den Autoverkehr weiter attraktiv machen und dadurch neuen Autoverkehr generieren. Solche Projekte begründen gesamtpolitisch auch mittel- und langfristig einen hohen Investitionsbedarf für weiteren Straßenbau. Für eine Verkehrswende sind sie damit kontraproduktiv.

Die Bahn wird an den Rand gedrängt, dank ihrer falschen Orientierung

Früher war es vor allem ein Privileg der Schienen, mitten in die Orte zu führen. Denn Schienen brauchten viel weniger Platz, waren besser verträglich und konnten architektonisch gut der Umgebung angepasst werden. Noch heute werden die Bahndämme und auf Backsteinbögen verlaufenden Bahntrassen jener Zeit in Berlin, Hamburg oder Paris wegen ihrer gestalterischen Qualität und Multifunktionalität bewundert, etwa, wenn unten drin Läden und Gastronomie untergebracht sind.

In starkem Kontrast dagegen stehen alle Hochgeschwindigkeitstechniken, die sich aus physikalisch-psychologischen Gründen nicht in Städte integrieren lassen. Autobahnen mitten in der Stadt sind immer eine Vergewaltigung der Urbanität und Lebensqualität. Deshalb werden sie dort ja inzwischen bevorzugt im Tunnel geführt, was sie verkehrlich auch nicht viel sympathischer, aber um den Faktor 20 teurer macht als die normale vierspurige Stadtstraße.

Klassisches Beispiel für die Wechselwirkung von Stadtfeindlichkeit und Standort ist das Fliegen. Flughäfen können nur außerhalb von Städten untergebracht werden und nie auf dem Marktplatz. Und je schneller und größer die Flugzeuge werden, desto mehr Abstand brauchen die Flughäfen von der Stadt, natürlich auch wegen ihres riesigen Flächenbedarfs immer längerer Start- und Landebahnen, der nahe der Stadt nirgends befriedigt werden kann, wegen des Lärm- und Abgasteppichs, der die Lebensqualität der Städte ruinieren würde, und wegen der Gefahren für dicht bebaute Gebiete.

In die gleiche »Falle« gerät die großprojektorientierte Hochgeschwindigkeitsbahn. Wegen ihr machen neuerdings Bahnmanager und Ingenieure auch immer öfter Planspiele für die Verlagerung der Bahnhöfe an den Rand. Sie orientieren sich dabei an den Autobahnkreuzen, die sie als »optimale Verkehrsknoten« wahrnehmen. Im »Spagettiknoten» mehrerer sich kreuzender Autobahnen mit ihren überlagerten Kleeblättern sehen sie ihre angeblich moderne Knotenphilosophie symbolisiert. Ähnlich möchten sie auch ihre Bahnknoten organisieren, am besten möchten sie Autobahnknoten und Bahnhof gleich miteinander verknüpfen. Ein solcher Bahnhof fast mitten auf dem Autobahnkreuz ist der Bahnhof am Frankfurter Flughafen. Aber dort ist er ein durch die Historie des Flughafens legitimierter, plausibler Sonderfall, der erst dann zum Kuriosum würde, wenn er den Frankfurter Hauptbahnhof ersetzen sollte. Vorbild für solche Gedankenspiele über neue Bahnhöfe auf der grünen Wiese ist der TGV, der in verschiedenen Städten die alten Hauptbahnhöfe in den Zentren abgelöst hat (zum Beispiel Avignon). Jetzt »landet« man dagegen in der Pampa, auf riesigen Großparkplätzen, weil sich die SNCF offenbar Bahnkunden nur noch mit dem Auto vorstellen kann. Dabei übersehen die Bahnmanager, dass nach wie vor 80 % aller Menschen ihre Bahnhöfe zu Fuß oder mit dem Fahrrad erreichen, 15 % mit Bus und Straßenbahn und nur 5 % mit Taxi oder Privatauto. Es ist deshalb kurios, wenn neuerdings immer öfter von Vertretern der Bahnen von »schienenfreien Innenstädten« und neuen »Bahnhöfen auf der grünen Wiese« geredet wird. Das mit Abstand am besten verträgliche motorisierte Verkehrsmittel soll dem schlecht verträglichen Auto Platz machen? Und die kulturelle Orientierung auf zentrale Hauptbahnhöfe soll durch neue »Bahnhöfe am Autobahnkreuz« ersetzt werden? Mit der Verlagerung des Hauptbahnhofs Mannheim auf die »grüne Wiese«, ans Autobahnkreuz, hofften die Ingenieure eine schnellere, kürzere Schienenstrecke nutzen zu können. Und sie träumten von einer gigantischen Park&Ride-Anlage. Ähnlich kurios ist die Debatte um den alten Inselbahnhof in Lindau. Er wurde durch einen neuen Bahnhof auf dem Gelände des alten Güterbahnhofs in Reutin ersetzt, weil man dann glaubte, ein paar Minuten Fahrzeit sparen zu können. Den alten Bahnhof wollte man immobilienmäßig versilbern, für ein Kongresszentrum. So würde alle Erinnerung an Reisekultur verlorengehen, ingenieurmäßiger Stumpfsinn ohne psychologisches Feingefühl und Kundenorientierung dominiert die Sicht.

Ganz ähnlich wird bei der Hochgeschwindigkeit mit dem Reiseerlebnis und der Reisekultur verfahren. Wenn in Mittelgebirgslagen große Teile der Neubaustrecken für den ICE im Tunnel und hinter Lärmschutzwänden verborgen sind, bleibt für den eigentlichen Reisegenuss, den Blick in die Landschaft und auf die durchfahrenen Orte, keine Möglichkeit. Dann kann man die Fenster immer kleiner machen, fast schon wie beim Flugzeug. Das löbliche Gegenteil dazu ist der »gläserne Zug“« mit Rundumsicht und purem Reisegenuss. Bei der Hochgeschwindigkeitsbahn reduziert sich das Reisen auf die reine Beförderung, weshalb die DB dann auch auf den klassischen Reiseservice mit Speisewagen verzichten möchte.

Nächster Teil: Gründe für »dusselige« Großprojekte

Über Prof. Dr. Heiner Monheim

(*1946), Geograf, Verkehrs- und Stadtplaner, seit den 1960er Jahren befasst mit den Themen Flächenbahn, Schienenreaktivierungen, Erhalt des IR, S-Bahnausbau und kleine S-Bahnsysteme, Stadt- Umland-Bahnen, neue Haltepunkte, Güter-Regionalbahnen, Bahnreform 2.0, Kritik der Großprojekte der Hochgeschwindigkeit und Bahnhofsspekulation. Details: www.heinermonheim.de

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