Teil 5 des sechsteiligen Beitrags zu Großprojekten der DB. Teil 4 des sechsteiligen Beitrags zu Großprojekten der DB. Hier geht es zu Teil 1 und Teil 2 und Teil 3 und Teil 4
Von diesem Ausgangspunkt spielten vor allem die Ministerpräsidenten eine unheilvolle Rolle. Der seinerzeitige nordrhein-westfälische Ministerpräsident Clement versteifte sich auf den Metrorapid von Düsseldorf nach Dortmund. Der bayrische Ministerpräsident Stoiber versteifte sich auf die bayrische Transrapidvariante, die Flughafenstrecke nach Erding. Der rheinland-pfälzische Ministerpräsident Beck versteifte sich zusammen mit seinem Verkehrsminister Bauckhage auf den »Transrapid ins Nirgendwo«, zum Flughafen Hahn im Hunsrück, wo man in den Jahrzehnten zuvor praktisch alle Schienenstrecken stillgelegt hatte, um jetzt plötzlich seine Liebe für die teuerste aller denkbaren Schienen zu entdecken. Dieses Projekt war allerdings schon nach wenigen Wochen erledigt. Die realistische Reaktivierung der Hunsrückbahn dagegen hat weit weniger politischen Rückenwind und kommt nur mühsam vorwärts. Und der damalige Thüringische Ministerpräsident Vogel hatte sich als Postulat seines Bundeslandes gegen die seinerzeitige Bevorzugung der Neubautrasse Köln – Frankfurt seine Hochgeschwindigkeitsneubaustrecke Nürnberg – Erfurt garantieren lassen. Die Logik war immer die gleiche: Zahlen soll der Bund, die Wirtschaftlichkeit interessiert nicht. Und mit einer integrierten Bahnpolitik hat das alles nichts zu tun.
Bei all diesen Strecken wird so getan, als ob Geld keine Rolle spielte, es wird nicht nach preiswerten und weit besser wirksamen Alternativen gesucht. Das »dicke Lineal« gibt ohne Rücksicht auf Relief und Städtenetze die Trasse vor, auch wenn man dann kaum noch die vorhandenen Altstrecken nutzen kann und die meisten Städte und Regionen plötzlich vom Netz abhängt. Da ist nichts von Bestandsorientierung, Behutsamkeit und Bescheidenheit zu spüren, erst recht nichts von Wirtschaftlichkeit. Denn wirtschaftlich ist ein Netz, das mit kleinem Aufwand große Wirkung erzielt, also alle Verkehrsmärkte anbindet und seine Standards am Verkehrsmarkt orientiert. Ein wirtschaftliches Netz macht bei 200 km/h als Höchstgeschwindigkeit Schluss, kommt auf großen Teilen des Netzes auch mit 120-160 km/h und in den Regionalnetzen mit 80-120 km/h aus. Das wirtschaftliche Netz nimmt kleine Umwege in Kauf, wenn damit unterwegs große Potenziale abgegriffen werden können. Für ein wirtschaftliches Netz konzentriert man sich eher darauf, die Tausenden Langsamfahrstellen zu beschleunigen, die vielen ärgerlichen kurzen Netzlücken zu schließen, Kapazitätsengpässe eingleisiger Strecken zu beseitigen, die Flexibilität im Netz zu erhöhen und den Hauptteil der Investitionen in den Netzunterhalt, die Bahnhofsmodernisierung, die Streckenreaktivierung und in moderne Fahrzeuge zu stecken. Mit 300 km/h im Zweistundentakt über wenige Bolzstrecken zu düsen, ist weit weniger wirtschaftlich, als mit 160 km/h im Halbstundentakte das ganze Netz zu befahren.
Standardisierte Bewertung mit vielen Mängeln
Bei den Projekten des Schienenverkehrs spielt seit Ende der 1960er Jahre die sogenannte Standardisierte Bewertung nach GVFG eine zentrale Rolle. In ihr wird versucht, den verkehrlichen Nutzen in Relation zu den Kosten und Umwelteffekten zu bewerten. Allerdings gibt es dabei wesentliche Fehlkalkulationen. Zunächst werden die durch höhere Geschwindigkeit erzielbaren Effekte regelmäßig überbewertet, weil nur die Strecken- und nicht die Systemgeschwindigkeit von Tür zu Tür berücksichtigt wird. Was man im U-Bahn-Tunnel bei der Fahrt an Zeit gewinnt, verliert man wieder bei den viel längeren Zu- und Abgangs- und Umsteigewegen. Psychologisch ist dieser Effekt verheerend, weil die so genannten Restzeiten außerhalb des Fahrzeuges zeitlich viel stärker und unangenehmer wahrgenommen werden als die reine Fahrzeit. Gleiches gilt für die Hochgeschwindigkeitsstrecken der Bahn, weil man aufgrund des Konzentrationseffekts ja viel länger braucht, bis man erst mal im Hochgeschwindigkeitssystem drin ist. Man verliert gegenüber der Flächenbahn mehr Zeit im Zu- und Abgang, als man auf der Schnellfahrstrecke gewinnen kann. Weiter werden die angeblichen Zeitgewinne ja nie wirklich als gesparte Zeit realisiert. Vielmehr gehen sie über kurz oder lang ein in ein geändertes Standortverhalten, beispielsweise durch weniger distanzsensibles Wohnstandort-, Einkaufs- und Freizeitverhalten. Man verplempert also die theoretisch gewonnene Zeit schnell wieder durch längere Distanzen, die sprichwörtliche Kilometerfresserei. Wenn das nicht so wäre, hätte durch all die Beschleunigungsinvestitionen der letzten Jahrzehnte ja die im Verkehr verbrachte Zeit stetig abnehmen müssen, stattdessen hat sie ebenso zugenommen wie die zurückgelegte Distanz. Insofern ist gar keine Zeit gespart worden. Da die angeblich gesparte Zeit aber in der standardisierten Bewertung monetarisiert wird, stimmen die ganzen Wirtschaftlichkeitsannahmen nicht. Am schlimmsten aber sind die Fehler der standardisierten Bewertungen bei den Annahmen zur Verkehrsentwicklung. Denn sie unterstellen regelmäßig, mit der Investition gelänge es, den Modal Split, also die Verkehrsmittelwahl, vorteilhaft zu Gunsten des öffentlichen Verkehrs und der Bahn zu verändern. Das aber ist nur in ganz wenigen Ausnahmefällen gelungen. Meistens nahmen – auch dank der falschen Großprojekte mit ihren Konzentrationseffekten und der dadurch verlorenen Kundennähe – die ÖPNV-Anteile und speziell die Bahnanteile ab statt zu. Daran änderte auch nichts, dass bisweilen auf den bewerteten Strecken höhere Fahrgastzahlen als vorher erzielt wurden. Denn dieser Effekt beruhte meist auf dem Konzentrationseffekt infolge der Stilllegung paralleler Alternativstrecken (z. B. Rückgänge im Rheintal und Zuwächse auf der Schnellstrecke Köln – Frankfurt). Ärgerlich war in der standardisierten Bewertung auch der Verzicht auf systematische Alternativen, mit denen kontrastierende Investitionsstrategien bewertet worden wären. Dann hätte man beispielsweise eine Flächenbahnalternative mit einer Korridorbahnalternative vergleichen können. Und schließlich fixiert sich die standardisierte Bewertung ausschließlich auf Infrastrukturmaßnahmen. Aus vielen Beispielen weiß man aber, dass oft Maßnahmen der Kommunikation, des Tarifs, des Marketings und der Werbung viel mehr Einfluss auf die tatsächliche Marktentwicklung haben als Infrastrukturmaßnahmen. Die völlige Infrastrukturlastigkeit der Förder- und Bewertungssysteme ist einer der Hauptgründe für die Erfolglosigkeit der ÖPNV- und Bahnpolitik in Deutschland. Dieser Grundfehler ist vor allem dem Einfluss der Baulobby geschuldet, die noch stets ihre Interessen am Einsatz von möglichst viel Beton politisch durchzusetzen wusste, sehr zum Schaden von Effizienz, Sparsamkeit und Markterfolg.
Verkehrspolitik als Bau- und Industriepolitik und
die unheilvolle Rolle der Medien
Damit kommen wir zum schlimmsten Fehler deutscher Verkehrspolitik und vor allem Bahnpolitik: Sie fokussiert sich gar nicht auf die Verkehrsprobleme und ihre Lösung. Ihr primäres Ziel ist oft stattdessen die Förderung der Bauwirtschaft und bestimmter Industriezweige. Ganz offenkundig wurde das beim Transrapid, der nach der Pleite in Deutschland nur noch als exportorientiertes Technologieprojekt Sinn machte. Deshalb düste der Bundeskanzler höchstpersönlich zur Einweihung der Strecke in Shanghai. Das führte zu einer kurzen Euphorie des Firmenkonsortiums, ehe auch in China erkannt wurde, dass der Transrapid im Vergleich zur konventionellen Rad-Schiene-Technik extrem teuer und wenig effektiv ist. Wo die Milliarden an Baukosten als Wohltaten für marode Baukonzerne und als Geldspritze für risikoscheue Banken missverstanden werden, wird man nie zu sparsamen, bescheidenen Standards finden.
Natürlich spielt bei den Großprojekten auch die Wahrnehmung der Medien eine große Rolle. Medien brauchen Sensationen. Und im Verkehr sind nur Großprojekte Sensationen. Die alltägliche Arbeit in den verzweigten Netzen der Regionen macht medienmäßig wenig her. Nur Milliardensummen verströmen Exklusivität, versprechen überregionale Beachtung, rechtfertigen Hochglanzbroschüren. Zwar ist das beim Straßenbau nicht ganz so deutlich, weil dort die rituelle Einweihung immer neuer Autobahnteilstücke immer wieder mit viel Aufwand, Ministerfoto, Blaskapellen und Autokorsos begangen wird. Trotz der hundertfachen Wiederholung dieses Rituals gibt es beim Autobahneröffnen keinen Ermüdungseffekt der Medien. Offenbar kann bei Autobahnen wegen der hohen Investitionen je Kilometer Strecke mit fortdauerndem öffentlichem Interesse gerechnet werden. Bei Bundes-, Landes- und Kreisstraßen gehen neue Projekte im alltäglichen Nachrichtenrauschen unter. Und ähnlich ist das eben bei der Bahn. Auch hier sind die alltäglichen Kleinprojekte wenig sensationsträchtig. Es muss schon eine neue Hochgeschwindigkeitsstrecke, eine neue Brücke oder ein neuer Tunnel oder ein 21er-Bahnhof sein, ehe das medienwirksam wird. Vor diesem Hintergrund ist auch verständlich, warum sich die Verwaltungen des Bundes, der Länder und der Bahnen und Verkehrsunternehmen am liebsten mit Großprojekten befassen. Das spart gegenüber dem Planen und Realisieren von Hunderten Kleinprojekten scheinbar viel Arbeit: Man muss nur einen Antrag schreiben, nur eine Planfeststellung machen, sich nur gegenüber einem politischen Kontrollgremium verantworten, sich nur in eine Region einarbeiten. Man hat einen übersichtlichen Finanzplan. Man muss nur mit einer begrenzten Zahl von Bürgerinitiativen streiten. Man behält viel leichter den Überblick. Das ist viel einfacher, als nebeneinander Hunderte von Projekten voranzutreiben.
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